"Ukraine Calling ist Gold wert, auch für die deutsche Zivilgesellschaft"

"Nur Menschen, die die Situation in der Ukraine kennen, können der Ukraine auch helfen", sagt Alexander Wöll, Präsident der Europa-Universität Viadrina. Doch die Ukraine-Kompetenz in Deutschland sei bisher marginal. Zusammen mit der Robert Bosch Stiftung startet die Viadrina deswegen die Weiterbildung "Ukraine Calling" für Verantwortliche in Politik, Medien, Wirtschaft und Zivilgesellschaft.
Robert Bosch Stiftung | März 2016
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Die Ukraine war in letzter Zeit sehr präsent in den Medien. Jetzt ist die Ukraine medial etwas in den Hintergrund getreten. Wie beurteilen Sie die aktuelle Lage in der Ukraine, Herr Professor Wöll?

Alexander Wöll: Die aktuelle Lage ist genauso dramatisch wie im letzten Jahr – wenn nicht noch viel dramatischer. Dies ist auch ein Teil der sehr geschickten Strategie der russischen Regierung, die es geschafft hat, den Ukraine-Konflikt im deutschen und im europäischen Journalismus mehr oder weniger beiseite zu kehren. Der Ukraine droht nach wie vor der Staatsbankrott – wie Russland übrigens auch. Außerdem wird noch immer täglich gekämpft, es gibt täglich Tote, und nahezu alle offenen Fragen bleiben ungelöst, obwohl die Ukraine am 1. Januar dem Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union beigetreten ist. Die gesamte Situation in der Ukraine befindet sich auf tönernen Füßen.


Wenn wir heute über die Ukraine sprechen, meinen wir dann die Ukraine als Gesamt-Ukraine oder sprechen wir eigentlich über die Ukraine ohne die Gebiete Luhansk und Donezk?

Wenn sich eines während der letzten Jahre ganz stark verändert hat, dann das Verhältnis der Ostukraine zur Ukraine. Vor drei Jahren stand sie nicht so ganz auf der Seite der Ukraine, um es vorsichtig zu formulieren. Nach den ganzen Kriegshandlungen ist die Ostukraine "ukrainischer" als jemals zuvor. Es ist eine absurde Auswirkung von Putins Politik: Die Ostukraine scheint heute nationaler und ukrainischer denn je. Wenn wir über die Ukraine sprechen, reden wir natürlich auch über Luhansk und die Kriegsgebiete, die Städte und autonomen Regionen. Und letztlich sprechen wir auch immer noch über die Krim, die völkerrechtlich gar nicht als russisch anerkannt ist. Offiziell gilt das Budapester Memorandum, wonach 1991 der Ukraine ihre Grenzen garantiert wurden, sofern die Ukraine ihre Atomwaffen abbaut. Dieses Abkommen ist gültig, wenngleich ganz andere Fakten geschaffen worden sind.


Sie haben gerade über die wirtschaftliche Lage gesprochen und den Konflikt mit Russland. Was bedeutet der Konflikt mit Russland für die ukrainische Gesellschaft?

Der Konflikt ist das schlimmste Trauma seit Tschernobyl, seit dem großen Reaktorunglück, mit dem das Erwachen einer eigenen ukrainischen Identität so stark verknüpft ist. Seit damals gab es kein zweites Ereignis, das die Ukraine so im Mark getroffen hat wie der gegenwärtige Krieg mit seinen tausenden Toten. Dazu gehören auch die de facto-Abtrennung der Krim und die Gefährdung der territorialen Einheit der Ukraine. Es ist auch ein Ziel dieses Krieges, dass wichtige demokratische Reformen gar nicht durchgeführt werden, weil sich das Land im Krieg befindet. Im Grunde ist die Zivilgesellschaft um den Majdan betrogen worden. Einer der Professoren hier an der Viadrina für Konfliktmanagement und Mediation, Lars Kirchhoff, war zum Jahrestag auf dem Majdan in Kiew. Die Leute weinten und waren völlig verzweifelt, weil jeder verstand, dass die ursprünglichen Ziele des Majdans nicht erreicht wurden: Es regieren wieder die Oligarchen, es gibt Korruption, und die demokratischen Kräfte sind ein weiteres Mal betrogen worden.


Was bedeutet die aktuelle Situation in der Ukraine für die Arbeit der Viadrina und auch für das Projekt Ukraine Calling, das in Kooperation mit der Robert Bosch Stiftung durchgeführt wird?

Die Viadrina heißt ja Europa-Universität, weil sie den Prozess der europäischen Einigung wissenschaftlich unterstützen und Nachwuchs auf dem Gebiet der Europakompetenz – also in den drei Feldern Rechtswissenschaft, Wirtschaftswissenschaft und Kulturwissenschaft – ausbilden soll. Da ist natürlich ein Projekt wie Ukraine Calling eine weitere und sehr wichtige Facette für die Viadrina. Grundsätzlich gibt es nur wenig wissenschaftliche Ukraine-Kompetenz in Deutschland, die Slawistik-Institute in Deutschland sind in den letzten 10-15 Jahren um rund 35-40 Prozent reduziert worden. Außerdem war die Slawistik stets sehr Russland-zentriert. Seit ich Präsident der Viadrina bin, versuchen wir, die Ukraine stärker mit einzubeziehen. Aber bisher sind das alles zarte Anfänge. Ein Projekt wie Ukraine Calling ist Gold wert, auch für die deutsche Zivilgesellschaft. Dort ist das Wissen über die Ukraine bisher marginal. Auch die Politik selbst sagt: Es ist zu wenig Ukraine-Kompetenz vorhanden. Mit Ukraine Calling können sich Entscheidungsträger weiterbilden, um mehr Wissen über die Ukraine zu erlangen. Ob Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Auswärtigen Amt, Führungskräfte aus der Wirtschaft, Journalistinnen und Journalisten oder verschiedenste Institutionen: Mit dem Projekt möchte die Viadrina ein gutes, interdisziplinäres Umfeld bieten, um sich zur Ukraine weiterbilden zu können.


Sie sprechen auch von Journalisten als potenzielle Teilnehmer von Ukraine Calling. Wie beurteilen Sie die Berichterstattung über die Ukraine aktuell?

Sie ist auf jeden Fall besser als vor drei Jahren. Da hätte ich gesagt, sie ist desaströs schlecht. Als Fachmann für die Ukraine fällt mir das natürlich besonders auf, aber es war schon erschütternd, was man da auch in wirklich guten Blättern wie der ZEIT, dem Spiegel, der FAZ oder der Süddeutschen lesen konnte. Mittlerweile ist die Berichterstattung ein bisschen besser geworden. Ich glaube, dass die deutsche Zivilgesellschaft noch nie so viel über die Ukraine wusste wie jetzt nach zwei Jahren Krieg und dem Minsker Abkommen.


Wie kann Deutschland den Reformprozess der Ukraine unterstützen? Was können zum Beispiel Organisationen wie die Viadrina oder die Robert Bosch Stiftung tun?

Ukraine Calling ist bereits ein guter Schritt. Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft zu schulen ist wichtig, weil nur Menschen, die die Situation in der Ukraine kennen, der Ukraine auch helfen können. Aus meiner Sicht ist es außerdem elementar, dass die Studierenden nicht den Glauben an Europa verlieren, denn die Europa-Begeisterung scheint ja mittlerweile vielerorts dem Nullpunkt entgegen zu sinken. Letztlich können wir der Ukraine ja nur helfen, wenn wir die Teilnehmenden von Ukraine Calling befähigen, eigene Projekte mit ukrainischen Partnern anzustoßen. Wie anders können wir helfen als durch konkrete Projekte, die unsere Bürgerinnen und Bürger mit ukrainischen Bürgerinnen und Bürgern umsetzen? Seien es wirtschaftliche Projekte, seien es politische Projekte der Zivilgesellschaft, sei es die Verstärkung von Austausch: Für mich sind einzelne Projekte die solideste und beste Möglichkeit, die Ukraine konkret zu unterstützen.

(Interview: Ulrike Penk, Februar 2016)