Migration - eine ungenutzte Chance für den Klimaschutz?

Der Zusammenhang zwischen Klimawandel und Migration wird immer häufiger diskutiert. Seltener im Fokus stehen dagegen innovative Ansätze im Bereich Migration, die zu einem gerechten, ökologischen Übergang in der Wirtschaft beitragen können - wie beispielsweise Ausbildungs- und Arbeitsmarktpartnerschaften zwischen Afrika und Europa. Ein Essay von Ipek Gençsü, Research Fellow, Klima- und Nachhaltigkeitsprogramm, ODI, und Raphaela Schweiger, Teamleiterin Migration, Robert Bosch Stiftung.

Ipek Gençsü und Raphaela Schweiger | Mai 2021
Header ODI2
AdobeStock/Leonardo

Weltweit steigen die Temperaturen, und Millionen von Menschen bekommen die Folgen des Klimawandels zu spüren. Vor allem auf dem afrikanischen Kontinent ist im 21. Jahrhundert mit einem rasanteren Anstieg der Durchschnittstemperaturen als im globalen Mittel zu rechnen. Die drohende Klimakrise gefährdet nicht nur die nachhaltige Entwicklung, sondern wird auch gravierende Folgen für die Menschheit haben, beispielsweise durch häufigere und intensivere Extremwettereignisse sowie durch Wasserknappheit, Rückgang der Ernteerträge, Anstieg des Meeresspiegels oder Gesundheits- und Hygienerisiken. Darüber hinaus wird die Klimakrise zunehmend zu  einer zentralen Ursache für Migration und Vertreibung. Der massive Verlust von Lebensräumen und Lebensgrundlagen wird mit verheerenden Folgen verbunden sein, und das Interesse an den Zusammenhängen zwischen Klimawandel und Migration nimmt auf globaler und regionaler Ebene stetig zu.

Migration könnte als mögliche Strategie im Umgang mit der Erderwärmung dienen

Bislang war der Diskurs um die Themen Migration und Klimawandel hauptsächlich negativ behaftet  - und wurde naturgemäß unter den zahlreichen Wissenschaftler:innen und Expert:innen geführt, die einen Beitrag zur Eindämmung der beschriebenen Folgen leisten wollen. Migration war jedoch schon immer eine Anpassungsreaktion auf ein sich veränderndes Klima, wie der Blick in die Vergangenheit zeigt. Migration könnte somit auch als mögliche Strategie im Umgang mit der Erderwärmung dienen – und von einer saisonalen Migration in fruchtbarere Gebiete bis zu Rücküberweisungen von Migrant:innen zur Verbesserung der Lebensbedingungen an ihren Herkunftsorten reichen.

Migration kann dazu beitragen, den Arbeitskräftebedarf für den Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft zu decken

Weniger Beachtung findet dagegen die Tatsache, dass Migration für Länder beim Übergang in eine CO2-arme und klimaresiliente Zukunft auch neue Chancen bereithält.

Um zu verhindern, dass die Erderwärmung katastrophale Folgen mit sich bringt, ist schnelles Handeln gefragt: Länder in aller Welt, von Deutschland bis Ghana, müssen ihre Energie-, Industrie-, Landnutzungs- und Stadtsysteme klimaneutral umbauen und ihre Volkswirtschaften und Gesellschaften gegen neuartige Klimarisiken absichern. Ein derart umfassender Übergang erfordert Arbeitskräfte mit neuen Kenntnissen und Qualifikationen, um Solarmodule zu produzieren, Ladestationen für Elektroautos einzurichten, neue landwirtschaftliche Praktiken umzusetzen oder energieeffizientere Wohnungen zu bauen. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) geht davon aus, dass im Zeitraum zwischen 2018 und 2030 durch den Übergang zu einer grünen Wirtschaft 24 Millionen Arbeitsplätze (beispielsweise in der Branche der Erneuerbaren Energien) geschaffen werden, während in CO2-intensiven Sektoren (wie der Energieerzeugung aus fossilen Brennstoffen) lediglich sechs Millionen Arbeitsplätze verloren gehen. ODI führt in seinem aktuellen Bericht an, dass sowohl die Binnen- als auch die Auslandsmigration von Arbeitskräften dazu beitragen kann, den Arbeitskräftebedarf beim Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft zu decken – neben einer zielgerichteten Qualifikation der Arbeitskräfte vor Ort und derjenigen Arbeitskräfte, die durch das Verschwinden emissionsintensiver Industriezweige vertrieben wurden. Dieser Aspekt muss in den Mittelpunkt der Beziehungen zwischen Europa und Afrika gerückt werden – sowohl im Bereich der Migrations- als auch der Klimapolitik.

Schon heute engagieren sich zahlreiche Akteur:innen, darunter internationale Organisationen, Unternehmen, zivilgesellschaftliche Gruppen, Städte und gemeinnützige Einrichtungen, in den Bereichen Klimaschutz, faire Migration sowie Qualifizierung und Arbeitsmarktpolitik. Allerdings arbeiten sie häufig in festen Strukturen, tauschen sich nur selten miteinander aus und wissen nicht viel über die Probleme und Perspektiven der jeweils anderen.

Damit die Gruppen gemeinsam geeignete Maßnahmen und praktische Lösungen entwickeln können, muss das damit verbundene Silodenken überwunden werden. Vor allem jedoch darf ein solcher Austausch nicht nur zwischen den üblichen Verdächtigen stattfinden, sondern muss auch „Innovationsträger:innen“ wie Diasporagruppen, Stiftungen, Thinktanks, Städtevertreter:innen und Unternehmen der Sozialwirtschaft einbeziehen, die über übliche Prozessen hinaus denken und handeln.

Konkret sollten die Akteur:innen folgende Ziele und Maßnahmen anstreben:

Ausbildungspartnerschaften im Bereich Migration als zentrales Element

Arbeitsmigration hat im Verlauf der Geschichte bei wirtschaftlichen und strukturellen Umbrüchen schon immer eine zentrale Rolle gespielt. Ausgehend von diesen Erfahrungen müssen sich politische Entscheidungsträger:innen nun auf zielgerichtete Maßnahmen konzentrieren, um die Arbeitsmobilität zu fördern und den Weg in eine klimaneutrale Wirtschaft zu ebnen. Dazu zählen die Beseitigung von Informationsschranken und administrativen Hindernissen sowie Visaerleichterungen und soziale und wirtschaftliche Integrationsstrategien.

Eine wesentliche Voraussetzung dafür bilden länder- und sektorübergreifende Rahmenbedingungen zur Integration von Migrant:innen in die nationalen Arbeitsmärkte: Durch einen besseren Abgleich des Arbeits- und Fachkräftebedarfs kann Migration ihre positive Wirkung beim Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft vollständig entfalten.

Hier können neue Beispiele für Ausbildungspartnerschaft als Vorbild dienen. Mit Hilfe eines Programms der ILO  (Skills partnerships on migration) wurde das Potenzial von Ausbildungspartnerschaften für verschiedene Länder und wichtige Akteur:innen der Aus-und Weiterbildung ermittelt. Initiativen für eine Übertragbarkeit von Qualifikationen in Afrika empfehlen einen genaueren Abgleich des Arbeitsmarktbedarfs mit vorhandenen Berufen und Qualifikationen, um Strategien zur Qualifizierung und Beschäftigungsfähigkeit von Menschen zu unterstützen.

Dafür ist jedoch von allen Beteiligten ein beherztes Vorgehen gefordert. In der Arbeits-, Migrations- und Klimapolitik herrscht schon jetzt große Uneinigkeit, und eine Zusammenführung dieser Bereiche wird Anlass für weitere Auseinandersetzungen bieten. Daher müssen Vordenker:innen und Entscheidungsträger:innen neue Wege beschreiten und zunächst den Mut aufbringen, Migration als Mittel zur Verwirklichung der Klimaziele zu betrachten - und nicht als etwas, das reduziert oder gestoppt werden muss. Politische Entscheidungsträger:innen und nichtstaatliche Akteur:innen müssen neue Denkansätze und Arbeitsweisen erproben, um das Silodenken in der Politik zu überwinden.