Unsere Ernährung beeinflusst Gesundheit, Umwelt und soziale Gerechtigkeit – und erfordert klare politische Rahmenbedingungen. Dieser Überblick liefert zentrale Fakten für eine zukunftsfähige Ernährungspolitik.
Von Klimawandel bis Gesundheit: Ernährung beeinflusst zentrale Zukunftsfragen. Rund ein Drittel der globalen Treibhausgasemissionen entsteht durch unser Ernährungssystem – von der landwirtschaftlichen Produktion über Verarbeitung bis Konsum. Dazu kommt eine soziale Komponente: Wer kann sich gesundes Essen leisten? Wer hat Zugang zu gesunder Nahrung und wer bleibt ausgeschlossen?
Auch für die Gesundheit ist Ernährung ein zentraler Faktor. Die Zunahme von ernährungsbedingten Erkrankungen und Adipositas hat einen großen Einfluss auf unsere Lebensqualität und -dauer. Ungesunde Ernährung ist in Europa ein führender Risikofaktor für nicht übertragbare Krankheiten, die inzwischen für rund 80% der Krankenlast verantwortlich sind. Doch unsere Ernährung wirkt nicht nur individuell, sondern auch systemisch. Der Anbau von Lebensmitteln beeinflusst auch indirekt, zum Beispiel über Umwelt- und Klimaeffekte, die menschliche Gesundheit.
Wie können wir uns so ernähren, dass es einen positiven Einfluss auf Klima und Gesundheit hat? Klar ist: Die Verantwortung hierfür liegt nicht allein bei einzelnen Personen. „In politischen Debatten wird die Verantwortung oft vom System auf den Einzelnen abgewälzt: Der Ansatz zu sagen, wer nachhaltig leben will, entscheidet darüber am Einkaufsregal, greift zu kurz“, kritisiert Dr. Tabea Lissner, Teamleiterin Klimawandel bei der Robert Bosch Stiftung. Denn was Menschen essen, ist immer politisch geprägt und hängt davon ab, in welchen Ernährungsumgebungen sie sich befinden.
Auf die Gestaltung ihrer Ernährungsumgebung haben Menschen nur bedingt Einfluss. Stephanie Wunder, Leiterin des Teams Ernährung bei Agora Agrar und Jury-Mitglied unseres Förderprogramms „Zukunft aufgetischt!“ bringt es auf den Punkt: „Gesunde und nachhaltige Ernährung muss verfügbar, erschwinglich und attraktiv sein. Die Verbesserung ernährungsbezogener Kompetenzen kann nur dann wirksam sein, wenn die sogenannten Ernährungsumgebungen auch entsprechend gestaltet sind.“
Dieser Begriff „Ernährungsumgebung" beschreibt die reale und mentale Umgebung, in der eine Person Ernährungsentscheidungen trifft – und die ist abhängig von zahlreichen Faktoren: Welche Lebensmittel werden in Supermärkten oder in der Werbung angeboten? Welche kulturellen Essgewohnheiten prägen eine Person? Welche Produkte werden durch hohe Steuern teurer? Was gibt es heute in der Betriebskantine?
Unsere repräsentative Studie mit More in Common „Meine, deine, unsere? Was uns als Gesellschaft beim Thema Ernährung wichtig ist“ zeigt deutlich: Ernährung ist für die Mehrheit der Bevölkerung ein gesellschaftliches Thema. Fast zwei Drittel der Deutschen wollen mehr Nachhaltigkeit, Fairness und Transparenz in unserem Ernährungssystem.
Nur 14% der befragten Menschen haben den Eindruck, dass die Politik bereits genug Verantwortung für das Ernährungssystem trägt. Dagegen sind 57 % der Meinung, ihrerseits genug Verantwortung zu übernehmen. Die Menschen sind bereit für Veränderung - aber sie fühlen sich nicht gehört.
Ein Grund dafür liegt in der Art, wie über Ernährung gesprochen wird. Die Studie zeigt auch: 70% der Menschen in Deutschland erleben die politische Debatte als spaltend und ideologisch aufgeladen. Statt konstruktiver Lösungen dominieren Schlagworte wie „Bratwurstverbot“ oder „Verbotskultur“. Viele wünschen sich verbindliche Standards, mehr Transparenz und Beteiligung. Gleichzeitig herrscht Frustration über die Diskrepanz zwischen Wissen und persönlichen Handlungsmöglichkeiten.
„Fast alle wollen sich gesund ernähren, die meisten auch nachhaltig und regional. Aber das Thema Ernährung ist schwierig und voller Fallstricke und Herausforderungen, sodass es vielen Menschen schwerfällt.“
62 Prozent der Befragten halten die aktuelle Ernährungspolitik in Deutschland für wirkungslos. Gremien wie die Zukunftskommission Landwirtschaft und der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und Verbraucherschutz fordern seit Jahren klare politische Leitplanken.
2024 hat der Bürgerrat „Ernährung im Wandel“ des Deutschen Bundestages, ein Gremium aus 180 zufällig gelosten Bürger:innen, neun klare Empfehlungen für eine ganzheitliche Ernährungspolitik abgegeben, von denen bislang keine in die Umsetzung gebracht wurde.
„Es gibt bei vielen Menschen den Wunsch nach einer handlungsfähigen Politik, die gegenüber der Lebensmittelindustrie für Standards, Transparenz und Kontrolle sorgt. Am Supermarktregal wollen wir weiter frei entscheiden - aber dabei stets sicher sein, dass alles dort Angebotene auch gut, sauber und im besten Fall gesund ist“, so David Melches.
Sogar auf EU-Ebene lagen bereits wichtige ganzheitliche Vorhaben wie das Sustainable Food Systems Law auf dem Tisch – doch sie wurden blockiert. Die Politik zögert, das Thema wirklich anzupacken - und konzentriert sich auf Bürokratieabbau und Ernährungsbildung.
„Eine ambitionierte, nachfrageseitige Ernährungspolitik kann dazu beitragen, die gesunde und nachhaltige Wahl zur leichten Wahl zu machen. Dafür gibt es eine breite Palette an Instrumenten, von denen viele auch schon erfolgreich umgesetzt wurden, wie wir in einer breiten europäischen Studie zeigen konnten. Hier besteht noch großer Handlungsbedarf in Deutschland und auch auf EU-Ebene“, sagt Stephanie Wunder. Eine Studie von Agora Agrar und IDDRI zeigt, wie solche Instrumente in einigen europäischen Ländern bereits erfolgreich umgesetzt werden.
Dennoch gibt es viele positive Ansätze, Ernährung nachhaltig, regional und gesund zu gestalten: Gerade im ländlichen Raum und auf kommunaler Ebene setzen sich zahlreiche Initiativen für einen nachhaltigen Wandel des Ernährungssystems ein – von solidarischen Landwirtschaftsgemeinschaften bis hin zu den Ernährungsräten, die sich in verschiedenen Kommunen gegründet haben. Diese beweisen: Es gibt durchaus Lösungen und Alternativen, um das Ernährungssystem neu zu gestalten. Außerdem helfen Förderprogramme, wie „Zukunft aufgetischt!“, dabei, Initiativen mit lokalen Verwaltungsgremien zu verknüpfen, den Informationsaustausch zu verbessern und für eine stärkere Verankerung des Themas in der Kommunalpolitik zu sorgen.
„In unserem Programm "Zukunft aufgetischt!" testen wir Beteiligungsprozesse zu Ernährungsfragen gezielt in ländlichen Räumen. Beteiligung bedeutet hier nicht nur Mitreden, sondern Mitgestalten – von der Kantine bis zum Wochenmarkt“, beschreibt Tabea Lissner. Besonders die öffentliche Versorgung in Schulmensen, Krankenhäusern und Pflegeheimen bietet eine gute Möglichkeit, um Ernährung nachhaltiger zu gestalten: Hier kann die Politik direkt auf die Ernährungsumgebung der Menschen einwirken und dazu beitragen, regionale Ernährung zu fairen Preisen anzubieten.
Mit dem Programm Zukunft aufgetischt! unterstützt die Robert Bosch Stiftung Kommunen im ländlichen Raum dabei, gemeinsam mit den Bürgern regionale Ernährungssysteme partizipativ zu gestalten. Denn unsere Ernährung kann einen Beitrag zu Klimaschutz und zur Resilienz leisten und sie beeinflusst die Gesundheit von Bürger:innen.