Setzt die Bundesregierung die richtigen Prioritäten, um auch zukünftig eine qualitativ hochwertige und bezahlbare Gesundheitsversorgung sicherzustellen? Mehr als die Hälfte der Deutschen verneint dies, wie eine vom Bosch Health Campus der Robert Bosch Stiftung beauftragte repräsentative Umfrage zeigt. Was der Politik jetzt gelingen muss, formuliert Dr. Bernhard Straub.
Wie eine aktuelle Umfrage des Bosch Health Campus belegt, ist das Vertrauen der Bürger:innen in die deutsche Gesundheitspolitik gesunken. So geben fast 60 Prozent der Befragten an, wenig oder kein Vertrauen mehr in die Fähigkeit der Politik zu haben, für eine hochwertige und zugleich bezahlbare Gesundheitsversorgung zu sorgen. 2020 waren es noch 30 Prozent.
Die Zahlen sind alarmierend. Liegt es am fehlenden Gespür der Politik für die Bedürfnisse der Menschen oder daran, dass Vorhaben zu langsam und unentschlossen umgesetzt werden? Beim Thema Digitalisierung zumindest scheint Letzteres der Fall zu sein. Die jetzt veröffentlichte Umfrage belegt zum wiederholten Mal, dass sich die große Mehrheit der Bürger:innen wünscht, die Möglichkeiten der Digitalisierung auch im Gesundheitsbereich stärker zu nutzen. Anders als es in der Vergangenheit von einzelnen Interessengruppen suggeriert wurde, umfasst diese Bereitschaft auch das Teilen gesundheitsrelevanter Daten, um die eigene Versorgung zu verbessern und die Versorgungsforschung zu unterstützen. Nun hat endlich auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach die Digitalisierungsstrategie der Bundesregierung für das Gesundheitswesen vorgestellt. Vor wenigen Tagen folgte dann die Ankündigung, dass die digitale Patientenakte bis Ende nächsten Jahres flächendeckend eingeführt werden soll. Das ist zu begrüßen. Es bleibt zu hoffen, dass diesen Worten Taten folgen, denn die Umsetzung ist überfällig.
Im Rahmen der Initiative "Neustart! Reformwerkstatt für unser Gesundheitswesen" hat der Bosch Health Campus der Robert Bosch Stiftung in den letzten Jahren mehrfach das Meinungsforschungsinstitut forsa beauftragt, um auf dieser Grundlage Vorschläge für eine Reform des Gesundheitswesens zu erarbeiten. Zuletzt wurden vom 25. Januar bis 10. Februar 2023 bundesweit 1.800 Personen ab 18 Jahren befragt. Die Ergebnisse dieser aktuellen Studie finden Sie auf der Newssite des Bosch Health Campus sowie die Details zum Download auf der Website des Programms.
Digitalisierung kann aber nicht alle Probleme lösen. Die aktuelle Umfrage belegt, dass der direkte Kontakt mit medizinisch ausgebildetem Fachpersonal für Patient:innen weiterhin zentral bleibt. Wichtig ist den Menschen, medizinische Anlaufstellen in ihrer Nähe zu haben, kurzfristig Termine zu bekommen und mehr Zeit von Ärzt:innen und Gesundheitsfachkräften, zum Beispiel für die gemeinsame Entscheidungsfindung. Insbesondere chronisch kranke Patient:innen, Menschen in kleinen und mittleren Städten (bis 100.000 Einwohner:innen) und über 60-Jährige messen diesen Aspekten eine große Bedeutung bei.
Um diese Bedürfnisse zu adressieren, fördert das Robert Bosch Center for Innovative Health am Bosch Health Campus sogenannte PORT-Zentren (Patientenorientierten Zentren zur Primär- und Langzeitversorgung). Sie sind kommunal verankert, bündeln die Leistungen der unterschiedlichen Gesundheitsberufe und bieten damit eine umfassende und bedarfsorientierte Grundversorgung in der direkten Umgebung.
In der Fläche bilden solche Angebote allerdings noch immer die Ausnahme. Zu den Ursachen zählen erhebliche Rechtsunsicherheiten, beispielsweise bei der Vergütung, und fehlende Anreize für eine intensivere Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Gesundheitsberufsgruppen. Prinzipiell ist die Politik bei der Neuausrichtung der Primärversorgung auf dem richtigen Pfad. So sieht der Koalitionsvertrag beispielsweise die Einführung eines neuen Berufsbildes vor, der Community Health Nurse (CHN), die selbstständig Routineuntersuchungen durchführt, Bagatellerkrankungen behandelt, Therapien managt und Betroffene in der eigenen Gesundheitskompetenz schult. Das allein reicht aber nicht aus. Zusätzlich muss gesetzlich klar geregelt werden, welche ärztlichen Aufgaben die Community Health Nurse künftig übernehmen kann. Nur so erhält sie die Möglichkeit, rechtlich abgesichert ihren Aufgaben nachkommen zu können. Das gilt auch für einige vielversprechende Vorschläge der Krankenhaus-Kommission zur Neuausrichtung der Primärversorgung, darunter der Einsatz ambulanter Einrichtungen ohne ärztliche Aufsicht, die von Pflegekräften geleitet werden und die Basisversorgung abdecken können.
„Auch die 1.000 Gesundheitskioske, die die Bundesregierung vorsieht, könnten eine Lücke im System schließen, insbesondere an der Schnittstelle von gesundheitlicher und sozialer Beratung. Das Defizit in der Primärversorgung, das sich in den kommenden Jahren noch erheblich verschärfen wird, können die Gesundheitskioske allein aber nicht heilen."
Dafür braucht es bessere Versorgungsstrukturen in den Regionen: Primärversorgungszentren, Gesundheitskioske, kommunale Medizinische Versorgungszentren (MVZ) und soziale Beratungsstellen müssen als eine sich gegenseitig ergänzende Lösung verstanden werden. Auch dafür brauchen wir neue rechtliche Regelungen. Mit der Krankenhausstrukturreform ergibt sich jetzt eine Möglichkeit für innovative Modelle, die den Bedarf und die Lebensumstände der Bevölkerung, den sogenannten Sozialraum, besser berücksichtigen als bisher.
Ein Aspekt, der bei all dem immer wieder aus dem Blick gerät und dem im Koalitionsvertrag gerade einmal neun Zeilen gewidmet wurden, ist die Prävention. Die Hebelwirkung einer gesunden Lebensweise kann für den einzelnen Menschen, die Gesellschaft und das Gesundheitssystem gar nicht hoch genug geschätzt werden. Vor dem Hintergrund einer dramatischen Zunahme von lebensstilbedingten Erkrankungen müssen mehr Anstrengungen in die Förderung der Gesundheitskompetenz fließen. Das gesamte medizinische Abrechnungssystem ist auf die Behandlung bereits bestehender Erkrankungen ausgerichtet. Viel zu wenig honoriert wird, wenn Menschen sich bemühen, Krankheiten gar nicht erst entstehen zu lassen. Das muss sich ändern, denn anders werden wir langfristig keine bezahlbare hochwertige Gesundheitsversorgung mehr gewährleisten können. Dabei liegt genau dieser Punkt – eine bezahlbare Gesundheitsversorgung – den Menschen besonders am Herzen. 99 Prozent der Deutschen halten ihn für wichtig oder sehr wichtig.