Integration

Zugewanderte Pflegefachkräfte: Was es braucht, um in Deutschland anzukommen

2023 ließ Shibina Jose ihr Leben in Indien hinter sich und begann als Pflegefachkraft in Schwäbisch Gmünd. Dass sie sich dort wohlfühlt, hat viel mit Sigrid Hegele zu tun. Eine Geschichte über eine außergewöhnliche Freundschaft, die mit dem Mentoringprogramm „StaF“ begann.

Text
Alexandra Wolters
Bilder
Anne Ackermann
Datum
06. August 2024
Lesezeit
7 Minuten

Eine Eisdiele in Schwäbisch Gmünd. Eigentlich ist Vanille ihre Lieblingssorte. Doch heute möchte Shibina Jose etwas anderes ausprobieren. Die 37-jährige Inderin beugt sich über die bunte Auswahl und überlegt. Neben ihr steht Sigrid Hegele. Die Rentnerin hat ihre Wahl schon getroffen: „Pistazie“, sagt die 66-Jährige. Also entscheidet sich Shibina Jose ebenfalls für Pistazie: „Hm, lecker!“ Die beiden Frauen setzen sich mit ihrem Eis an einen Tisch in der Fußgängerzone. „Wie kommst du mit dem Lernen für die Deutschprüfung voran?“, fragt Sigrid Hegele „Ganz gut“, antwortet Shibina Jose. „Aber es ist ganz schön viel Stoff.“

Shibina Jose arbeitet als Pflegefachkraft im Pflegeheim St. Ludwig. Im August 2023 ist sie aus ihrer Heimat Indien nach Schwäbisch Gmünd gekommen. Und zwar zunächst allein. „Ich wollte einen Wendepunkt in meinem Leben.“ Die Worte klingen überzeugt. In Indien sei es fast unmöglich, eine passende und fair bezahlte Stelle zu finden. Und es geht es ihr auch um ihre beiden Kinder, die zusammen mit ihrem Mann noch in der Heimat leben. „Meine Kinder sind erst fünf und acht Jahre alt“, erzählt sie. „Hier werden sie sicher eine bessere Zukunft haben“. Shibina Jose wuchs in einem Bergdorf im südindischen Bundesstaat Kerala auf und lebte mit ihrer Familie auf der Farm der Schwiegereltern. „Wir hatten ein großes Haus und Felder mit Kaffee- und Teepflanzen.“

Das Handy hilft gegen Heimweh

Shibina Jose ist jeden Tag in Kontakt mit ihrer Familie in der fernen Heimat. Sie schicken sich Fotos von ihren Ausflügen. Die Bilder aus Indien helfen ihr gegen das Heimweh. Wenn sie von ihrem Mann erzählt, greift sie sich an ihre goldene Hochzeitskette. Er arbeitet bei einer Bank und möchte bald einen Deutschkurs beginnen. Denn die Familie will so rasch wie möglich wieder vereint sein, und zwar in Deutschland. Dafür braucht Shibina Jose aber eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung. Ihre Ausbildung wurde bereits anerkannt. Nun fehlt noch ein Sprachkundetest mit berufsspezifischen Fachbegriffen. Dafür lernt sie vor und nach ihren Schichten, jeden Tag.

zwei Eiswaffeln mit je zwei Kugeln Eis
Blick uf die Eisauswahl einer Eisdiele
Auf eine Kugel Eis: Sigrid Hegele und Shibina Jose treffen sich für ihren Mentoring-Austausch in einer Eisdiele in Schwäbisch Gmünd.

„Shibina ist unglaublich zielstrebig und fleißig, ihr Deutsch ist schon so gut“, schwärmt Sigrid Hegele. Die beiden sind sich nicht zufällig über den Weg gelaufen. Sie trafen sich im Rahmen des Mentoringprogramms „Soziale Teilhabe ausländischer Fachkräfte in der Pflege“ (STaF) – ein Angebot des Entwicklungswerks für soziale Bildung und Innovation. Es wird bundesweit an zehn Standorten angeboten und von der Robert Bosch Stiftung sowie vom Bosch Health Campus gefördert. Dabei geht es darum, dass neu zugewanderte Pflegefachkräfte die Menschen in ihrem neuen Wohnort kennenlernen und in möglichst vielen Bereichen am Leben außerhalb ihres Jobs teilhaben können. Damit sie gut in Deutschland ankommen, sich hier emotional und sozial wohlfühlen – und langfristig bleiben.

Menschen aus der Region übernehmen nach einer kurzen Schulung die Rolle von Mentorinnen und Mentoren und teilen ihre Ortskenntnisse, ihr Wissen und ihre Netzwerke mit den neu zugewanderten Pflegefachkräften. Sie helfen ihnen bei Fragen rund um den Alltag: Wie nutze ich den Bus? Wie funktioniert die Bücherei? Oder auch: Wo ist die nächste Eisdiele? Sie unterstützen die Pflegefachkräfte auch dabei, ihren Hobbys nachzugehen oder sich sozial zu engagieren, indem sie beispielsweise Kontakte zu passenden Vereinen und Organisationen herstellen.

Seniorin und ihre Pflegerin auf einem Flur im Altenheim
Shibina Jose an ihrem Arbeitsplatz, dem Pflegeheim St. Ludwig in Schwäbisch Gmünd

Wo gibt es in Schwäbisch Gmünd roten Reis?

Auch Shibina Jose hatte nach ihrer Ankunft viele Fragen. Einige konnte ihr Arbeitgeber, die Stiftung Haus Lindenhof, beantworten. Deren Personalabteilung weist neue Pflegefachkräfte auch auf das Programm von STaF hin. Shibina Jose bewarb sich im Herbst 2023 und traf dort Sigrid Hegele. Seitdem treffen sich die Frauen regelmäßig und unternehmen viel zusammen; die Rentnerin hat Shibina Jose schon all ihre Lieblingsplätze gezeigt.

Wenn sie im Stadtgarten auf den langen Holzbänken sitzen, reden sie. „Wir sprechen über all die Dinge, die gerade anliegen: Dokumente, die ausgefüllt werden müssen, über das Lernprogramm und Dinge, die benötigt werden“, erzählt die Rentnerin, die in Schwäbisch Gmünd ein großes Netzwerk aus Freunden, Familie und Bekannten hat.

Einmal suchten sie ein Geschäft, das den typischen roten Reis aus Indien verkauft. In der Wohngemeinschaft, in der Shibina Jose mit zwei weiteren indischen Pflegerinnen lebt, kochen sie fast jeden Tag wie zu Hause. „Ich liebe ja auch Maultaschen“, erzählt sie lachend. „Aber viele deutsche Gerichte sind für mich einfach zu wenig gewürzt, ich mag es gerne scharf.“ Viele Zutaten bekomme sie in normalen Supermärkten, „aber nach unserem roten Reis musste ich länger suchen.“ Dank Sigrid Hegele wurde sie fündig. Was könnte man damit wohl kochen, überlegte Sigrid Hegele damals beim Anblick der vielen exotischen Produkte. „Kein Problem“, versprach ihr Shibina und lud sie zu einem selbst gekochten Curry bei sich zu Hause ein.

Wer sich in Deutschland wohlfühlt, will hier auch arbeiten und dauerhaft bleiben

Die Rentnerin ist von dem Konzept des STaF-Programms überzeugt: „Nur, wer sich hier bei uns wohl und angenommen fühlt, sich mit seinen Interessen ausleben darf, hat auch Lust zu bleiben, hier zu arbeiten und sich zu engagieren.“ Mit ihrem Engagement will die Schwäbin auch ein Zeichen setzen. „Immer wieder begegne ich – auch im engeren Freundeskreis – Leuten, die Ressentiments gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund haben. Das erschreckt mich. Das ärgert mich. Und das macht mich sauer.“ 

Unser Fördergebiet

Gesundheit

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Seit Gründung der Stiftung 1964 widmen wir uns dem Thema Gesundheit. Bereits 1940 hatte unser Stifter selbst das Robert Bosch Krankenhaus gegründet. Wir arbeiten an der Zukunftsfähigkeit unseres Gesundheitssystems und setzen uns für eine Gesundheitsversorgung ein, die an den Menschen und ihren Bedürfnissen ausgerichtet ist – seit 2022 im Bosch Health Campus.

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Im Pflegeheim St. Ludwig ist Shibina Jose längst angekommen. Hier wird sie gebraucht und geschätzt. Denn sie ist mit viel Herzblut bei der Arbeit, die sie in Indien gelernt und auf Geburts- und Intensivstationen ausgeübt hat. Als ihr Vater vor vielen Jahren einen Schlaganfall hatte, erlebte sie, wie er dank der Fürsorge der Mutter wieder auf die Beine kam. „Damals habe ich gedacht, wer gut pflegt, ist ein Engel. Das möchte ich später einmal machen.“

eine Altenpflegerin öffnet die Vorhänge an einem Fenster
Rückseite eines Smartphones mit einem Foto in der transparenten Hülle
Shibinas Mann und ihre Kinder leben noch in ihrer Heimat Indien. Sie wollen so schnell wie möglich nachkommen – bis dahin ist das Handy ihre wichtigste Verbindung

In Schwäbisch Gmünd arbeitet die 37-Jährige zum ersten Mal intensiv mit Älteren. „Menschen in Pflegeheimen brauchen nicht nur medizinische Behandlung, sondern vor allem emotionale Unterstützung. Das ist ein Keypoint“, beschreibt Shibina Jose ihren Arbeitsalltag. Sie versuche, Beziehungen aufzubauen und viel mit den Bewohnerinnen und Bewohnern zu reden. Zum Beispiel bei einer Entspannungsmassage, bei der sie manchmal auch Elemente aus der indischen Heilkunst Ayurveda einbaut.

Auch Yoga und Meditation gehören zum Alltag der Inderin. Das entspanne sie und sorge für gute Stimmung, genauso wie Tanzen und Musik. Meist ist es klassische indische Musik, die sie über ihr Handy abspielt. Aber sie singt auch gerne über eine App zu Karaoke und verbreitet die Clips über ihre sozialen Medienkanäle.

Demnächst wird sie mit Sigrid Hegele, die längst ihre Freundin ist, ein Musiktheater besuchen. Da möchte sie in Zukunft auch mitsingen. Und dann ist da noch das - Fahrradfahren. Das möchte Shibina Jose unbedingt lernen. Ein gebrauchtes Fahrrad haben die beiden schon zusammen in einer Werkstatt des ADFC in Aalen besorgt. „Nun muss ich das nur noch üben“, sagt Shibina Jose und schiebt lachend ihre eigene Skepsis beiseite. „Das schaffe ich schon.“

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