Sie arbeiten in der Landwirtschaft, in der Pflege, in der Fleischindustrie: Arbeitsmigrant:innen aus dem Nicht-EU-Ausland leben meist unter besonders prekären Bedingungen, oft in einem Abhängigkeitsverhältnis vom Arbeitgeber. Das Migrant Rights Centre Ireland kämpft für die Rechte von Arbeitsmigrant:innen, mit den Betroffenen gemeinsam. Hier berichten sie, was sich ändern muss.
An diesem Stück Papier klebt Hoffnung. Das sieht man schon daran, wie es die schmale Frau mit schwarzen Haaren und rotem Zopfgummi auseinanderfaltet. Die Falze sind tief eingegraben ins Papier. DIN A 4, sorgfältig drei Mal gefaltet auf die Größe eines Geldbeutels. Die Frau hat Platz genommen auf einem Stuhl im Drop-In-Center des Migrant Rights Centre Ireland (MRCI) in Dublin. Ein Lidl-Beutel dient ihr als Handtasche, sie hängt ihn über den Stuhl. Ihr Mann zieht einen zweiten Stuhl heran und setzt sich neben sie. „Wir sind am Ende unseres fünften Jahres mit Stamp 1“, sagt sie, streicht das Papier glatt und legt es auf den Schreibtisch von Hilary Bizumuremyi, „können wir uns nach Weihnachten auf Stamp 4 bewerben?“
Bizumuremyi ist Sozialarbeiter im MRCI. Migrant:innen bei akuten Problemen beraten ist ein Fokus des Zentrums, der zweite politische Arbeit für deren Rechte. Bizumuremyi und seine Kolleg:innen kennen sich mit den Kniffs des irischen Migrationsrechts aus und vor allem damit, was schief läuft. Stamp 4, das würde bedeuten, dass die Frau ganz frei einen Job suchen kann und ihr Aufenthaltsstatus nicht mehr an einem einzelnen Arbeitgeber hängt. Und dass sie Unterstützung bekommen kann für eine Fortbildung, die sie geplant hat. „Sie sagen, ich darf nicht teilnehmen“, erzählt sie und klingt enttäuscht, „aber ich brauche die Schulung, um einen neuen Job zu finden.“
Der Sozialarbeiter sieht sofort, was das Problem ist. „Das wird nicht funktionieren, das ist eine andere Art von Stamp 1“, sagt Bizumuremyi. Die Frau fällt in sich zusammen. Die Zuversicht, die Vorfreude, plötzlich ist alles weg. „Ich bin seit 22 Jahren hier!“, ruft sie aus, „ich bezahle seit Jahren Steuern! Ich hatte so gehofft, dass wir diesmal eine gute Nachricht bekommen.“ Bizumuremyi, den hier alle nur „Biizi“ nennen, bleibt ruhig. Er redet mit leiser Stimme geduldig auf die Frau ein. Er schaut ihre Dokumente an, hilft ihr, sich im Online-System der irischen Einwanderungsbehörde anzumelden. Die Frau ist vor vielen Jahren mit einem Studierenden-Visum eingereist und einfach geblieben, nachdem es abgelaufen war – so wie einst auch Biizi. Wobei „einfach“ relativ ist. „Für mich gab es damals kein Zurück“, berichtet er später: In Ruanda war Krieg. Wer aber ohne Papiere lebt, muss sich ständig verstecken. Zudem gibt es keinerlei staatliche Hilfe in schwierigen Situationen. „Das ist wirklich hart.“
Die Frau an Biizis Schreibtisch konnte zwar vor fünf Jahren ihren Status legalisieren, hat aber nur eine Art „Ausnahme“-Erlaubnis erhalten – und kommt nun nicht weiter. Ihre Heimat ist nach mehr als 20 Jahren im Land natürlich Irland. Solche Fälle sind für die Bürokratie gewissermaßen unsichtbar, weil die reale Zeit, die solche Menschen im Land verbracht haben, nicht gesehen wird. Aber hier im Drop-In-Center bekommen sie ein Gesicht.
Irlands Wirtschaft wächst, das Land hat Vollbeschäftigung und viele Stellen sind unbesetzt. Es geht bei weitem nicht nur um hochqualifizierte Fachkräfte, auch in der Pflege, der Landwirtschaft und der Fleischverarbeitung werden Migrantinnen und Migranten eingestellt. Deshalb werden immer mehr Arbeitskräfte aus dem Nicht-EU-Ausland angeworben und hektisch neue Regelungen geschaffen. Zugleich gibt es viele reguläre ebenso wie irreguläre Arbeitsmigrant:innen im Land, für die der Weg auf den freien Arbeitsmarkt aufgrund bürokratischer Hürden eingeschränkt ist. Jede undurchdachte Regelung führt zu Leid. Das betrifft nicht nur Irland, sondern die ganze EU. Der Fall steht stellvertretend für Europa.
„Wir sehen hier im Zentrum recht eindeutig, was die Probleme sind“, sagt Neil Bruton, Kampagnen-Manager im MRCI. Die Organisation setzt sich seit 15 Jahren für die Rechte von migrantischen Arbeiter:innen ein und hat sich dafür auch dem europäischen Netzwerk PICUM angeschlossen, das das Thema in die EU-Politik einbringt – vor allem die Stimmen der Arbeitsmigrant:innen selbst. Nach diesem Prinzip funktioniert auch die politische Arbeit des MRCI: „Wir konzipieren unsere Kampagnen gemeinsam mit den Betroffenen, lassen sie zu Wort kommen und helfen ihnen, dass ihre Stimme gehört wird“, sagt Bruton. „In jeder Kampagne arbeiten Betroffene aus dem Zentrum mit.“
Eine aktuelle Kampagne des MRCI fordert etwa, dass Migrant:innen im Niedriglohnsektor ihren Arbeitgeber sowie die Branche wechseln dürfen. Auf EU-Ebene gibt es seit April 2024 neue Regelungen, die einen Arbeitgeberwechsel erleichtern sollen – allerdings können diese von den Mitgliedsstaaten angepasst werden, so dass die Bedingungen in den Ländern unterschiedlich sind.
Bis vor kurzem hing eine Aufenthaltserlaubnis am ersten Arbeitgeber: Wenn das Arbeitsverhältnis von Migrant:innen in Irland innerhalb der ersten fünf Jahre gekündigt wurde, mussten die Betroffenen das Land verlassen. Eine Regelung, die zu Abhängigkeit von den Arbeitgebern führte, mit dramatischen Folgen.
Bruton und seine Kollegen haben viele Fälle von Ausbeutung beobachtet – schlechte Bezahlung, unbezahlte Überstunden, unmenschliche Arbeitsbedingungen –, gegen die sich die Betroffenen nicht wehren konnten. Gerade hat eine MRCI-Kampagne erreicht, dass zumindest der Arbeitgeber gewechselt werden darf – aber nicht die Branche. Anders behandelt werden Arbeitnehmer:innen aus dem „critical skills“ Bereich, also in höherqualifizierten Berufen: Wer aus dem Nicht-EU-Ausland nach Irland zieht für beispielsweise einen Job in der IT-Branche, bekommt nicht nur mehr Geld, sondern ist nur zwei Jahre lang an seinen Arbeitgeber gebunden – im Gegensatz zum Niedriglohnsektor, wo es fünf Jahre sind. „Wir wollen Fairness und Gleichheit für alle erreichen“, sagt Bruton.
Eine andere Kampagne des MRCI fordert die vereinfachte Zusammenführung von Familien. Seit einigen Jahren sei es in Irland möglich, auch in traditionellen Billiglohn-Bereichen wie der Landwirtschaft, der Fleischproduktion und der Pflege Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Ländern offiziell einzustellen und mit einem Aufenthaltsstatus zu versehen, erklärt Bruton. Allerdings haben diese Branchen gleichzeitig den hart erkämpften Mindestlohn für migrantische Arbeiter:innen von 30.000 Euro im Jahr auf 23.000 Euro herunter verhandelt. „Das erodiert ihr Recht auf Familiennachzug“, sagt Bruton – denn dafür müssen sie ein gewisses Mindesteinkommen nachweisen. Mit nur 23.000 Euro dürfen sie ihre Familien nicht zu sich holen. Ins Drop-In-Center des MRCI kommen seither verstärkt verzweifelte Mütter, denen die Behörden den Nachzug ihrer Kinder verweigern.
Eine von ihnen ist Bethel. „Wir arbeiten zwölf Stunden am Tag mit den Kindern anderer Mütter“, sagt die 36-jährige Pflegerin aus Simbabwe, „und abends sitzen wir alleine in einer Wohnung in einem fremden Land.“ Ihre eigenen Kinder hat sie seit zwei Jahren nicht mehr in den Arm nehmen können. Sie sieht sie nur in Videokonferenzen, denn der irische Staat erlaubt ihr nicht, sie zu sich zu holen. Bethel arbeitet in einer Einrichtung für Kinder und Jugendliche mit psychischen Problemen in Dublin. Eine Agentur hat die 36-jährige Mutter dafür zuhause in Harare angeworben. Es dauere nur ein Jahr, dann könne sie ihre Familie nachholen, sei ihr gesagt worden. Also ließ sie ihre neunjährige Tochter, den elfjährigen Sohn und ihren Ehemann schweren Herzens zurück. In Dublin würde sie gutes Geld für ihre Kinder verdienen können, und es war ja nicht für lang. „Das war eine Lüge“, sagt Bethel bitter.
Jetzt reicht es ihr, und deshalb sitzt sie an einem Sonntag im September im MRCI und schmiedet Pläne für eine neue Kampagne. 18 andere Betroffene sitzen mit ihr in einem Stuhlkreis. Ein Campaigning-Workshop für alle, die ihre eigene und die Situation anderer Arbeitsmigrant:innen verbessern wollen. Was konkret muss sich ändern, ist die erste Frage, die sie klären. Bethel beschreibt ihre verzweifelten Versuche, ein Aufenthaltsrecht für ihre Kinder und ihren Mann zu bekommen. Umfangreiche Anträge, viele Nachweise und Bearbeitungszeiten von bis zu einem Jahr. Gerade erst hat sie einen ablehnenden Bescheid bekommen, „nachdem ich mein Innerstes nach außen gekehrt habe.“ Die Behörden hätten Belege für ihre Beziehung angefragt, Fotos, Chats, privateste Kommunikation. „Dabei bin ich verheiratet! Wieso reicht das nicht als Beweis?“ Sie zählt auf, was sie alles getan hat, um ihre Kinder bei sich zu haben und wie ihr immer neue Steine in den Weg gelegt wurden. Dann kann sie nicht mehr an sich halten und schluchzt. „Wir sind das Rückgrat des irischen Gesundheitssystems!“, sagt sie, „wieso werden wir so behandelt?“
Eine Frau aus Mexiko nimmt sie in den Arm. Ein Mann aus Südafrika sagt: „Wir teilen deinen Schmerz.“
Später im Workshop, nachdem sie die passenden Ansprechpartner in der irischen Politik für ihre Anliegen identifiziert haben, suchen sie die „Cupcakes“: „Was könnt ihr den Politiker:innen anbieten, womit könnt ihr sie erreichen“, formuliert Mairéad McDevitt, Leiterin der Community-Arbeit beim MRCI, die Frage. Sie leitet den Workshop gemeinsam mit Neil Bruton. „Familien gehören zusammen!“, ruft eine Frau. „Glückliche Arbeiterinnen leisten bessere Arbeit“, schlägt ein anderer vor.
Die Teilnehmer:innen teilen sich in Kleingruppen auf und diskutieren.
Irene aus den Philippinen mischt sich in die Gruppe zum Thema Familiennachzug. Sie war das Gesicht einer erfolgreichen MRCI-Kampagne für undokumentierte Arbeiter:innen, die schließlich eine Amnestie erhielten und bleiben durften. Sie selbst war 15 Jahre ohne gültigen Aufenthaltsstatus in Dublin. „Ich war ängstlich und misstrauisch“, erinnert sie sich an ihre ersten Kampagnentreffen, „als Undokumentierte willst du nicht in die Öffentlichkeit, du weißt nicht, wem du trauen kannst.“
Wenn sie Bethel weinen sieht, erinnert sie sich an ihre eigene Situation: Sie war mit einem Touristenvisum gekommen und hatte vor, nur ein paar Wochen in Irland zu arbeiten, um Geld zu verdienen für ihren zweijährigen Sohn, der eine Herzkrankheit hat. Aber es war nicht einfach, genug zu verdienen, sie blieb länger, lebte ohne regulären Status in Irland und konnte deshalb auch nicht mehr ausreisen. „Ich habe meine Kinder 15 Jahre nicht gesehen“, sagt sie, „das war schrecklich.“ Nun hat sie dank der erfolgreichen Kampagne einen Aufenthaltsstatus und kann ihre inzwischen teils volljährigen Kinder zu sich holen.
Die Kampagne sei wie eine Achterbahnfahrt gewesen, sagt sie, es gab Hochs und Tiefs, „aber ich habe nie die Hoffnung aufgegeben, ich habe es für meine Kinder getan.“ Es habe sich gelohnt, sagt sie stolz: „9200 Menschen haben dadurch eine dauerhafte Aufenthaltsberechtigung bekommen.“ Wichtig sei die Gemeinschaft am MRCI gewesen, „wir waren wie eine Familie.“
Am Nachmittag analysieren die Aktivist:innen Machtstrukturen, indem sie verschiedene Kräfte in ein Diagramm einsortieren – Politiker, Parteien, Gewerkschaften, Arbeitgeber und viele mehr: rechts jene, die offen sind für die MRCI-Forderungen, links die Gegner. Oben die Mächtigen, unten die mit weniger Macht. „Ein einzelner betroffener Migrant“, fragt Bruton – wo ordnen wir ihn ein? Ganz rechts – schließlich unterstützt er die Forderungen. Aber auch ganz unten – schließlich hat er keine Macht. „Und eine Gemeinschaft von Aktivist:innen?“ Die hat schon viel mehr Macht. „Ihr habt eure Macht also schon massiv verstärkt, allein, indem ihr hierher gekommen seid.“