Bessere Versorgung, mehr Vorsorge und KI

Für eine Zeitenwende im Gesundheitssystem

Prof. Mark Dominik Alscher fordert im neuen Buch „Die Gesundheit der Zukunft – wie wir das System wieder fit machen“ radikale Reformen von der künftigen Bundesregierung. Ein Gespräch über seine Vision.  

Text
Paul-Philipp Hanske
Bilder
Westend61/Robijn Page
Datum
19. März 2025

Herr Professor Alscher, in Ihrem Buch sprechen Sie davon, dass nicht weniger als eine Zeitenwende im Gesundheitswesen vonnöten ist. Wieso ist das so?

Prof. Mark Dominik Alscher: Das fängt schon bei den Kosten an. Wir haben eines der teuersten Gesundheitssysteme der Welt. Dieses ist aber nur mittelmäßig effektiv. Die aktuellen Vergütungssysteme setzen schlicht falsche Anreize, da sie vor allem Krankheitsbehandlung und nicht Prävention belohnen. Kurz: Finanzielle Mittel werden ineffektiv genutzt.

Zur Person

Prof. Dr. med. Mark Dominik Alscher

Mark Dominik Alscher ist Internist, Nephrologe und Geschäftsführer des Bosch Health Campus und des Robert Bosch Krankenhauses in Stuttgart. Seine Forschungsschwerpunkte sind Nierenerkrankungen und digitale Medizin. Gemeinsam mit Boris Augurzky und Christian Karagiannidis veröffentlichte er das Buch: „Die Gesundheit der Zukunft – Wie wir das System wieder fit machen“ (Hirzel, 2025).

Können Sie dafür ein konkretes Beispiel nennen?

Wer heute ins Krankenhaus kommt, wird teilweise stationär behandelt, obwohl dies nicht zwingend notwendig ist, weil Krankenhäuser aufgrund der aktuellen Regelungen kaum ambulante Leistungen anbieten können, und auch außerhalb der Krankenhäuser dafür oft das Angebot fehlt. Das verursacht zusätzliche Kosten und ist ineffizient. Ein weiterer Grund: Es fehlen zunehmend Fachkräfte, weshalb diese strikte Trennung problematisch wird, etwa bei der ambulanten Notfallversorgung, die dann häufig von Krankenhäusern übernommen werden muss.

Haben wir einen Ärztinnen- und Ärzte-Notstand?

Das klingt etwas dramatisch, aber viele junge Kolleginnen und Kollegen erleben die unternehmerische Verantwortung und Bürokratie als große Belastung. Sie wollen primär Menschen helfen, nicht Dokumente verwalten und Regresse abwehren. Immer häufiger geben Ärzte sogar ihre Kassensitze auf, da sie darin kaum noch Vorteile sehen. Heute ist ein angestelltes Arbeitsverhältnis für viele attraktiver.

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Welche konkreten Maßnahmen fordern Sie von der künftigen Regierung?

Wir müssen dringend sektorenübergreifend denken und handeln. Die neue Bundesregierung muss endlich die starre Trennung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung aufheben und ein gemeinsames Budget für beide Bereiche schaffen. Nur so lassen sich Fehlanreize abbauen und das Gesundheitssystem effizienter und gerechter gestalten. An Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) führt meiner Meinung nach kein Weg vorbei. Die neue Bundesregierung muss zentrale Anlaufstellen für die Primärversorgung stärken. Daher wäre eine integrierte Planung sinnvoll, bei der stationäre und ambulante Versorgungsstrukturen zusammengeführt werden.

Lassen Sie uns das einmal an einem Patienten mit gebrochenem Arm durchspielen …

Dieser käme zunächst zur Notfallversorgung ins Krankenhaus, würde dort unmittelbar behandelt und anschließend ambulant weiterbetreut. Das entspricht, meiner langjährigen Krankenhauserfahrung gemäß, immer auch dem Wunsch der Patientinnen und Patienten.

Wie sähe es mit komplexeren Fällen aus, etwa nach einer Krebsdiagnose?

Hier ist es hinlänglich bekannt, dass die Behandlung in einem spezialisierten Krebszentrum die Lebenserwartung markant verlängert. Trotzdem könnte die erste Diagnostik in einer wohnortnahen Klinik stattfinden. Die genaue Planung der Therapie würde dann in einem spezialisierten Zentrum erfolgen, etwa bei uns am Robert Bosch Krankenhaus in Stuttgart – eventuell auch remote über Telemedizin. Die weitere Betreuung könnte wiederum ambulant und digital begleitet erfolgen. So könnte man für alle Patientinnen und Patienten die optimale Behandlung garantieren. Vorausgesetzt natürlich, dass die verschiedenen Instanzen reibungsfrei miteinander kommunizieren.

Wäre die elektronische Patientenakte hierfür ein großer Fortschritt? Muss hier die neue Bundesregierung Tempo machen?

Ein mehr als notwendiger Fortschritt! Auch im Hinblick auf unnötige Kosten. Heute sind teure und unsinnige Doppeluntersuchungen – auch aufgrund der Trennung in stationäre und ambulante Versorgung – die Regel. Es wäre ein riesiger Fortschritt – für Behandelnde, vor allem aber für Patientinnen und Patienten –, wenn für alle Beteiligten der bestmögliche Informationsstand gesichert wäre.

In Ihrem Buch sprechen Sie sich für eine komplette Umgestaltung der ambulanten Versorgungszentren aus. Welches Modell schwebt Ihnen vor, und welche Rolle könnte die elektronische Patientenakte dabei spielen?

Die Primärversorgung steht heute enorm unter Druck, da viele Arztsitze schon jetzt unbesetzt bleiben. Gleichzeitig steigt der Bedarf, insbesondere im Bereich Prävention. Ein Ausbau der Primärversorgungszentren könnte hier Großes leisten. Am Bosch Health Campus haben wir das PORT-Konzept, sogenannte patientenorientierte Zentren zur Primär- und Langzeitversorgung, eingeführt, mit dem wir sehr gute Erfahrungen machen. Das Gleiche gilt für Community Health Nurses, akademisch ausgebildete Pflegekräfte, die auch im Bereich Prävention, Gesundheitsmanagement und sozialmedizinischer Betreuung arbeiten.  Dazu ist es aber auch nötig, über die Rolle der Pflegekräfte neu zu sprechen. Aktuell dürfen Pflegekräfte nur auf ärztliche Anweisung handeln. Ein konkretes Beispiel wäre jedoch die Behandlung einfacher Krankheitsbilder wie Harnwegsinfekte in Altenheimen. Eine gut geschulte Pflegekraft könnte problemlos Diagnosen stellen, Laboruntersuchungen durchführen und unter Umständen sogar eine Antibiotikatherapie einleiten, insbesondere in Kombination mit telemedizinischer Unterstützung durch einen Arzt. Sie sehen: Bei all dem ist eine nahtlose Kommunikation absolut essenziell. Die elektronische Patientenakte könnte diese sicherstellen. Weitere Möglichkeiten liegen in der Betreuung chronischer Krankheiten wie Diabetes oder Bluthochdruck, einschließlich präventiver Maßnahmen.

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Prävention ist Ihnen ein großes Anliegen. Sie bemängeln in Ihrem Buch, dass im deutschen Gesundheitssystem das Thema Vorsorge zu kurz kommt. Wieso ist das so?

Prävention spielt hierzulande noch nicht die Rolle, die sie eigentlich spielen sollte. Effektive Prävention könnte chronische Krankheiten verzögern oder sogar verhindern, was langfristig erhebliche Gesundheitskosten einsparen könnte. Das wäre dringend notwendig, denn es ist andererseits auch klar, dass Behandlungen zwar immer erfolgreicher werden, aber oft auch – wenn Sie etwa an personalisierte Krebstherapien denken – teurer. Natürlich ist es absolut unstrittig, allen Patientinnen und Patienten die bestmögliche Therapie zu ermöglichen. Uns in Deutschland erscheint ein Aufrechnen, „ob sich das lohnt“, unmoralisch – ich finde zu Recht. Klar ist aber auch, dass die Kosten des Gesundheitswesens nicht davongaloppieren dürfen. Deshalb ist Vorsorge so zentral. Prävention muss endlich zur politischen Priorität werden – die neue Bundesregierung sollte Gesundheitsförderung konsequent in Schulen, Betrieben und im Alltag verankern. Das schließt gesündere Lebensweisen wie ausgewogene Ernährung, Bewegung und den Verzicht auf Rauchen oder übermäßigen Alkoholkonsum ein. Ärztinnen und Ärzte, aber auch das eben angesprochene akademisch ausgebildete Pflegepersonal, müssen im Kontakt mit den Patientinnen und Patienten künftig noch stärker darauf Wert legen.

Wie bewerten Sie die Idee, nach dem Verursacherprinzip beispielsweise höhere Tabak- und Zuckersteuern einzuführen, um die Gesundheitskosten zu kontrollieren? Muss die künftige Regierung hier handeln?

Die Gesellschaft wird die steigenden Gesundheitskosten zunehmend schwer finanzieren können. Ähnlich wie bei der CO₂-Abgabe für den Klimawandel könnte man hier das Verursacherprinzip anwenden: Wer bewusst Risiken eingeht, etwa durch Rauchen, könnte über höhere Steuern beteiligt werden. Diese Vorgehensweise erscheint mir gesellschaftlich akzeptabel, besonders da sie in anderen Bereichen bereits etabliert ist.

All das in Rechnung gestellt: Welches wäre ein realistisches Zukunftsszenario für das deutsche Gesundheitssystem in etwa zehn Jahren? Und was würden Sie sich wünschen?

Ich beginne mal mit einem Worst-Case-Szenario: Dann entwickeln wir uns in Richtung einer Zweiklassenmedizin, wie sie in den USA zu beobachten ist, mit schlechterer Versorgung für chronisch Kranke und einer großen Abhängigkeit der Versorgungsqualität vom Einkommen. Das kann nicht unser Ziel sein. Im besten Fall – und ich bin der festen Überzeugung, dass das zu schaffen ist – gelingt es uns, mit den vorhandenen Mitteln ein effektiveres und qualitätsgesichertes System aufzubauen. Deutschland ist Spitzenreiter in Sachen Behandlungsqualität und medizinischer Forschung. Es geht darum, das, was wir hier auf höchstem Niveau haben, zukunftssicher und für alle Patientinnen und Patienten weiterhin zugänglich zu gestalten. Dazu müssen wir an die Finanzierung und die grundsätzlichen Strukturen heran. Eine große Aufgabe, aber eine machbare. Wenn wir dann noch Prävention und Gesundheitserhaltung stärker priorisieren, ist die Zeitenwende geschafft.

Zum Abschluss noch etwas Persönliches: Wie sorgen Sie selbst dafür, dem Gesundheitssystem möglichst wenig zur Last zu fallen?

Ich achte sehr auf regelmäßige Bewegung. Früher bin ich viel gejoggt, heute kombiniere ich das mit funktionellem Fitnesstraining, um meine Gelenke zu schonen. Außerdem trinke ich täglich Kaffee, was in Maßen – etwa bis zu vier Tassen am Tag – gesundheitlich durchaus förderlich sein kann.

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