Lange Wartezeiten, knappes Personal, zu wenig Zeit für Patient:innen: Die Mängel des deutschen Gesundheitssystems sind deutlich spürbar. Besonders in sozial benachteiligten Gegenden leidet die gesundheitliche Versorgung. Wir besuchen ein PORT-Zentrum in Berlin-Neukölln, das Gesundheits- und Sozialleistungen zugänglicher und somit gerechter macht.
„Wollen Sie zur Elterngruppe?“, fragt Eva Weirich. Sie steht an der Tür des Gesundheitskollektivs Berlin – kurz Geko – im Stadtteil Neukölln. Es ist Mitte Januar, kurz vor zehn Uhr, und das sonst so graue Berlin ist an diesem Wintertag ganz in Weiß gehüllt. Der Mann am Eingang nickt. Eva Weirich streckt ihm mit einem Lächeln die Hand entgegen: „Hallo, ich bin Eva. Schön, dass du es trotz Schnee und Eis geschafft hast. Die Gruppe trifft sich im hinteren Raum.“ Der Mann tritt in die warmen Räumlichkeiten des Stadtteilgesundheitszentrums – einem Ort, an dem der Mensch, seine Gesundheit und das tägliche Miteinander neu betrachtet werden. Der Tee steht schon bereit. Ankommen? Wohlfühlen? Das klappt schnell, hier in Neukölln. Besonders, weil hier Gesundheit und Wohlbefinden anders als in den gewohnten Gesundheitsstrukturen verstanden werden.
Das von der Robert Bosch Stiftung geförderte Gesundheitskollektiv Berlin gibt es seit 2016. Es ist eines von elf sogenannten PORT-Zentren in Deutschland, die den Grundstein für ein neues Gesundheitssystem in Deutschland legen sollen. Zu finden ist es seit 2022 auf dem Gelände der ehemaligen Kindl-Brauerei im sogenannten Rollbergkiez. Auf 500 Quadratmetern haben sich verschiedene Gesundheitsberufe zusammengeschlossen, die Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams ist ein zentraler Punkt der PORT-Zentren.
In der oberen Etage des Neubaus befinden sich die Kinder- und Jugendmedizin der Berghafenpraxis und die hausärztlich-internistische Stadtteilpraxis sowie eine therapeutische Praxis für Kinder. Unten kann man sich im Café Praxis über verschiedene Freizeitangebote oder Veranstaltungen informieren oder beitreten und sich bei Kaffee und Kuchen austauschen. Auch diverse Beratungsstellen sind im Haus. Gemeinsam setzen sie sich hier für eine gute Gesundheitsversorgung für alle Menschen ein – unabhängig von Herkunft, Alter, Geschlecht oder Bildung.
Die Robert Bosch Stiftung fördert mit dem PORT-Programm regionale Gesundheitszentren in Deutschland. Diese setzen auf patientenzentrierte, koordinierte Versorgung, integrieren neue Ansätze wie E-Health, fördern Prävention und sind lokal eingebunden. 2017 startete die Stiftung mit elf Initiativen, die jetzt vom Bosch Health Campus fortgeführt werden. Das Programm zielt auf eine umfassende Grundversorgung und verbesserte Versorgung von chronisch kranken Menschen ab. Begleitet durch Vernetzungstreffen und Forschung, trägt es zur Anpassung rechtlicher und finanzieller Rahmenbedingungen für Primärversorgungszentren bei.
Zu den Infoveranstaltungen gehört beispielsweise auch die Elterngruppe, die sich heute trifft. Der Kurs ist neu im Kollektiv und noch im Aufbau, doch angenommen wird das Angebot bereits gut. Ziel ist es, dass sich Eltern untereinander zur Entwicklung und Gesundheit ihrer Kinder austauschen können. Eva Weirich leitet die Gruppe mit ihrer Kollegin Kim Quistorff. Weirich ist Pflegefachperson und Gesundheitswissenschaftlerin. Sie bietet im Kollektiv Beratungen im Bereich Gesundheit und Pflege an und ist an der Etablierung des Bereichs Community Health Nursing im Zentrum beteiligt. Zu ihr kommen alle Menschen, die vor Herausforderungen im Gesundheitssystem stehen oder ihre Krankheit nicht bewältigen können. Wir treffen sie heute, um zu sehen, wie der Alltag im Gesundheitskollektiv funktioniert.
Quistorff ist für die Familienberatung im Kollektiv zuständig und leitet als Psychologin die Kindertherapie in der oberen Etage. Auch sie begrüßt den Mann, der heute zum ersten Mal zur Elterngruppe dazukommt, und zeigt ihm den Kursraum. Sie reicht dem Neuankömmling Überzieher für seine Straßenschuhe. Sie selbst trägt Hausschuhe. Das passt, denn das ganze Gesundheitskollektiv hat etwas von einem großen Zuhause.
Dass dieser Wohlfühlort seinen Sitz in Nord-Neukölln haben sollte, war eine bewusste Entscheidung. Hier gab es in den letzten Jahren, trotz der hohen Bevölkerungsdichte, nur ein geringes Angebot an kinderärztlicher Versorgung und medizinischer Unterstützung. Für die Bewohner:innen des stark migrantisch geprägten und sozial eher benachteiligten Stadtteils ist ein Arztbesuch nicht immer leicht – viele haben mit Sprachbarrieren und Diskriminierung zu kämpfen. Das Gesundheitskollektiv will einen Ausgleich schaffen, alte Strukturen aufbrechen und alle Patient:innen solidarisch und fair behandeln.
Mit Initiativen wie dieser in Neukölln werden erste Bausteine für ein neues Gesundheitssystem gelegt: die Entwicklung und Gründung von lokalen und allumfassenden Gesundheitszentren in Deutschland. Mit ihnen soll die Primär- sowie die Langzeitversorgung von Patient:innen in den jeweiligen Regionen abgedeckt werden. Expert:innen gehen davon aus, dass die Zahl der chronisch und mehrfach erkrankten Menschen in den kommenden Jahren noch weiter zunehmen wird. Gleichzeitig sinkt die Zahl der Gesundheitsfachkräfte.
Ein Blick in Länder wie Kanada oder Schweden zeigt, dass lokale Gesundheitszentren diesen komplexen Versorgungsbedarf erfolgreich auffangen können. Um diesen Ansatz auch in Deutschland weiter voranzutreiben, hat die Robert Bosch Stiftung 2016 das Konzept „PORT – Patientenorientierte Zentren zur Primär- und Langzeitversorgung“ entwickelt. Im Rahmen des gleichnamigen Förderprogramms, das inzwischen vom Bosch Health Campus fortgeführt wird, werden bundesweit elf Initiativen dieser Art in ihrer Weiterentwicklung zu PORT-Gesundheitszentren unterstützt. Die Zentren werden dabei an den Bedarf der jeweiligen Region angepasst.
„Oft stellen wir erst in der Beratung fest, dass die Person noch keine kindermedizinische Versorgung für ihr Neugeborenes hat oder sich aus Angst vor Zurückweisung nicht bei ihrem Hausarzt meldet. Dann helfen wir.“
Eva Weirich und ihre Kolleg:innen schlagen Brücken, und das ist der große Unterschied zu gewöhnlichen Versorgungstellen. „Oft stellen wir erst in der Beratung fest, dass die Person noch keine kindermedizinische Versorgung für ihr Neugeborenes hat oder sich aus Angst vor Zurückweisung nicht bei ihrem Hausarzt meldet. Dann helfen wir“, erklärt Weirich. So werden Hemmschwellen abgebaut, und die Versorgung wird leicht gemacht. Auch Veranstaltungen wie die von heute geben Einblicke in die familiären Verhältnisse und Bedürfnisse.
Man muss den Menschen im Ganzen denken. Hier im Kollektiv werden die Lebensrealitäten der Leute miteinbezogen und ernst genommen. Oft kommen die Beschwerden nicht von ungefähr, sondern sind direkt mit den Lebensumständen der Patient:innen verbunden.
„Aktuell informieren wir hier im Kollektiv beispielsweise zum Thema Schimmel. Die Bewohner:innen aus dem Rollbergkiez kämpfen oft mit dem Pilz in den Wohnanlagen. Das zeigt sich auch in ihren gesundheitlichen Beschwerden“, so Weirich. Sie zeigt: Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status erkranken anders als bessergestellte Personen. Man muss den Kiez und seine jeweiligen Beschwerden kennenlernen, um helfen zu können.
Wer seine Patient:innen kennt, kann sich an deren Bedürfnisse anpassen – auch sprachlich. Die Praxis-Teams können in verschiedenen Sprachen weiterhelfen, Broschüren auf Arabisch oder Türkisch sind genauso selbstverständlich wie auf Deutsch, und für alle weiteren Sprachen helfen moderne E-Health-Geräte. Der ganzheitliche Gedanke führt nicht nur zu gesünderen Patient:innen, sondern auch zu glücklicheren.
Barrierefreiheit ist das Stichwort: Wichtig ist den Mitarbeitenden des Geko auch, dass sie und ihre Hilfsangebote gefunden werden. „Wir wollen mit unserem Konzept viele Zugangswege zu Gesundheit und Wohlbefinden schaffen. Ratsuchende können sich bei Problemen direkt bei uns melden. Das Café ist eine weitere Möglichkeit, um mit uns in Kontakt zu treten. Und es gibt weitere Schnittstellen in der Gegend: Wir sind beispielsweise auch in den Quartiersräten im Rollbergkiez vertreten und machen auf uns aufmerksam“, erläutert Weirich.
Mit seinen vier Säulen – medizinische Versorgung, Gemeinwesenarbeit und Projekte im Kiez, Beratung und Selbsthilfe sowie Forschung und Evaluation – ist das Kollektiv mehr als nur ein medizinisches Versorgungszentrum. Das Angebot schließt Maßnahmen zur Prävention und Gesundheitsförderung ein. Dazu erfüllt es einen sozialen Auftrag und bringt Menschen aus der Community zusammen.
Seit 1964 widmen wir uns der Gesundheit. Bereits 1940 hat unser Stifter selbst das Robert-Bosch-Krankenhaus gegründet. Wir arbeiten an der Zukunftsfähigkeit unseres Gesundheitssystems und setzen uns für eine Gesundheitsversorgung ein, die an den Menschen und ihren Bedürfnissen ausgerichtet ist. Seit 2022 bündeln wir unsere Aktivitäten im Bereich Gesundheit im Bosch Health Campus.
Auf diese Weise soll nicht nur das Gesundheitssystem gestärkt werden; es sollen auch gesellschaftliche Ungleichheiten abgebaut werden. Sogar die heutige Elterngruppe passt zu diesem Plan. Hier können sich Eltern ein Netzwerk aufbauen und über Herausforderungen austauschen. Den Eltern ist es selbst überlassen, ob sie ihre Kinder mitbringen wollen oder nicht. Die beiden Beraterinnen sind auf jeden Fall vorbereitet: Krabbeldecke, Spielzeug, Kinderbücher – alles liegt in der Mitte des Stuhlkreises bereit. Heute soll es um „Gefühle, Schreien, Autonomie, Fürsorge und Grenzen“ gehen. Um die Menschen und ihre individuellen Bedürfnisse. Zwei Eltern sind da. Eine Zwillingsmutter und der Vater zweier Kinder, den wir schon am Eingang getroffen haben.
Zu Beginn stellen sich alle vor, und die beiden Eltern erklären ihre jeweilige familiäre Situation: warum sie heute hier sind und womit sie gerade hadern. Die Lebenssituationen sind unterschiedlich, aber die Überschneidung beim Alter der Kinder verbindet. Der Vater erzählt, dass sein Sohn ihn momentan oft zurückweist und nur mit seiner Frau Zeit verbringen will. Das schmerzt. Quistorff versucht, die Gefühle des Kindes zu spiegeln. „Wir können nur das sehen, was das Kind macht. Wir haben immer nur eine Perspektive. Aber was passiert bei dem Kind?“, fragt sie.
Nach der Hälfte der Zeit verteilt Quistorff noch mal frischen Tee. Mit der neuen Runde wird die Stimmung lockerer, und alle lachen viel. Auch das Gespräch verändert sich und geht in eine andere Richtung. Es wird jetzt offener gesprochen. „Durch Corona haben wir den Anschluss an andere Eltern verpasst“, erzählt die Zwillingsmama. Auch der Zweifachvater bestätigt, dass sie wenig Kontakt zu anderen Familien haben und es schwer ist, auf dem Spielplatz oder in der Kita Freundinnen und Freunde zu finden. „Umso wichtiger sind Orte wie diese“, meint Weirich. „Kein Netzwerk zu haben verstärkt den Stress.“ Als die Zeit um ist, wird noch Feedback eingeholt. Was wünschen sich die Eltern noch? Was können die beiden Beraterinnen verändern? „Wir sorgen nur für die Ideen. Ihr schaut, welche zu euch passen“, sagt Weirich.
Wir stehen vor drängenden Gerechtigkeitsproblemen: Arm-Reich-Schere, globale Ungleichheit, Bildungszugang und Klimagerechtigkeit. Diese erfordern eine gerechte Ressourcenverteilung, Generationengerechtigkeit, Chancengleichheit und faire Umweltbelastungsverteilung. Gerechtigkeit formt uns und beeinflusst Entscheidungen. Lesen Sie hier, wie wir Projekte zur Schaffung von Gerechtigkeit fördern.
Für Eva Weirich ist der Arbeitstag längst nicht zu Ende. Sie wird noch ein paar Beratungsgespräche führen, mit Kolleg:innen neue Ideen ausfeilen oder Patientenberichte besprechen. Und am Ende wartet ein Austausch mit den Health Community Nurses in Hamburg. Ihre fröhliche und energische Art von heute Morgen ist immer noch zu spüren. Gemeinsam und gut gelaunt will sie die Zukunft anpacken: „Das Zentrum wird gut angenommen, und die Menschen hier im Kiez bringen sich selbst ein. Das ist ein riesiger Gewinn.“ Das Zusammenwachsen und somit die Zusammenarbeit gilt es auch in Zukunft noch weiter zu stärken. „Die neue Arbeitsweise hat auch mit Vertrauen zu tun – das zu bekommen ist sehr wertvoll.“