Wie können wir lokale Akteure in der Ukraine aktiv unterstützen und auf die Bedürfnisse der Menschen eingehen, die vom Krieg betroffen sind? Benjamin Abtan ist Co-Gründer des kürzlich ausgezeichneten Hilfsprojekts „Europe Prykhystok“, das von der Robert Bosch Stiftung gefördert wird. Im Interview spricht er über internationale Zusammenarbeit in Kriegszeiten und neue Perspektiven für Kinder.
Benjamin Abtan: Zu Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gab es von der europäischen Bevölkerung eine historische Unterstützungswelle für Menschen, die vom Krieg betroffen waren. Nach einiger Zeit flaute sie wieder ab – obwohl es in der Ukraine weiterhin Unterstützungsbedarf gab. Deshalb wollten wir ein System schaffen, das die Menschen, die unter dem Krieg leiden, nachhaltiger unterstützt. Dabei wurde uns klar, dass in der Mobilisierung und Vernetzung lokaler Akteure wie Behörden, Regionen, Städte oder Verbände aus der Ukraine und Frankreich enormes Potenzial steckt, um gemeinsam Lösungen zu finden.
Wir tauschen uns aktiv mit den lokalen Behörden in der Ukraine aus und haben ein offenes Ohr für ihre Bedürfnisse. Das ist unser wichtigstes Anliegen. Für Menschen, die in der Ukraine leben – insbesondere für gefährdete Gruppen wie Kinder – ist der Krieg harte Realität. Die Behörden vor Ort haben uns bei unserem Besuch nicht wie erwartet um Hilfe für langfristige Umsiedlung gebeten. Was die Menschen wirklich brauchen, sind Unterstützungsangebote, die Kindern eine kurze Auszeit vom Krieg ermöglichen.
Seither organisieren wir Ferien für Kinder. Dafür vermitteln wir die Anfragen aus der Ukraine an unsere lokalen Partner:innen in Frankreich und bald auch in anderen europäischen Ländern. Wir haben zum Beispiel eine Vereinbarung zwischen der französischen Stadt Montpellier und der Region Lviv in der Ukraine getroffen, auf Basis derer Kinder Ferien in Frankreich machen können. Das ist ein innovativer Ansatz: Normalerweise arbeiten lokale Akteur:innen in Kriegszeiten und in Bezug auf Menschen, die vertrieben wurden, selten länderübergreifend zusammen. Aber da die Institutionen in der Ukraine trotz des Krieges funktionieren und der Staat stabil ist, können wir eine dezentralisierte Governance aufbauen.
„Die Ferien geben den Kindern Kraft und zeigen ihnen Wege auf, um nicht zusammenzubrechen.“
Für die Familien sind sie eine große Entlastung. Die Ferien geben den Kindern Zeit zum Durchatmen und bieten ihnen die Möglichkeit, ihre Gefühle mit anderen zu teilen. Eine Anekdote macht das besonders deutlich: Bei einem Abendessen in Frankreich, das von einem örtlichen Verein zur Begrüßung der Kinder organisiert wurde, habe ich einen 16-jährigen Jungen getroffen, der aus dem Osten der Ukraine kam. Er war sehr schüchtern und hat nicht viel gesprochen. Ein Erwachsener hat mir später erzählt, der Junge habe gerade seinen Vater verloren. Ein paar Tage später habe ich ihn wiedergesehen. Gemeinsam mit anderen wurde er von einem lokalen Fernsehsender interviewt. Seine Rede war sehr beeindruckend und sprühte nur so vor Kampfgeist. Später habe ich erfahren, dass er während der Ferien Menschen gefunden hat, mit denen er sich über Krieg und Verlust austauschen konnte. So können die Kinder Kraft tanken und Wege finden, nicht zusammenzubrechen. Die stärkste Wirkung hat das Projekt auf menschlicher Ebene.
Lokale Akteur:innen verfügen über ein enormes Potenzial, um vom Krieg betroffene Menschen zu unterstützen. Dafür brauchen sie aber die entsprechende Infrastruktur, Fähigkeiten und Kontakte. Wir ermöglichen ihnen, sich in Kriegszeiten international zu vernetzen und geben ihnen direkt Einblicke in die Bedürfnisse der Menschen in der Ukraine. Auf dieser Basis unterstützen lokale Akteur:innen besonders gefährdete Gruppen auf unterschiedliche Art und Weise: Einige schaffen die Infrastruktur für die Aufnahme von Kindern aus Kriegsgebieten, andere bieten psychologische Schulungen an. Wieder andere sammeln Geldmittel, die direkt an lokale Akteur:innen in der Ukraine gehen, zum Beispiel für Renovierungen, damit Menschen, die durch den Krieg vertrieben wurden, jetzt im Winter einen Ort haben, um anzukommen. Die Wege, zu helfen, sind vielfältig.
„Europe Prykhystok“ („Zuflucht“, „Unterkunft“ auf Ukrainisch) ist eine im April 2022 gestartete regionale Initiative zur Unterstützung der am stärksten durch den Krieg gefährdeten Bevölkerungsgruppen in der Ukraine, insbesondere von Kindern. Das Projekt wurde jüngst beim Paris Peace Forum ausgezeichnet. Das Forum prämiert Projekte, die herausragende Strukturen entwickeln, um weltweite Herausforderungen zu meistern.