Integration & Demokratie

Warum unsere Parlamente mehr Politiker:innen mit Migrationshintergrund brauchen

Der Bundestag und die Landesparlamente brauchen mehr Mandatsträger:innen mit Migrationshintergrund, fordert Senior Expert Ferdinand Mirbach aus dem Team Einwanderungsgesellschaft der Robert Bosch Stiftung. Das stärke das Zusammenleben in einer Einwanderungsgesellschaft und unsere Demokratie.

Text
Dr. Ferdinand Mirbach
Bilder
IMAGO/Jens Schicke; Verena Müller; Sedat Mehder
Datum
24. September 2024
Lesezeit
6 Min.

Aktuell diskutiert Deutschland intensiv darüber, wie sich Zuwanderung steuern und Integration verbessern lassen. Bereichern könnten diese Debatte sicherlich die Menschen, die schon längst zugewandert und Teil der deutschen Gesellschaft sind: die Millionen von einst sogenannten „Gastarbeiter:innen“ aus den 1950er und 1960er Jahren und ihre Nachkommen, sowie die Migrant:innen der letzten Jahrzehnte. Doch bei ihrer politischen Repräsentation klafft eine deutliche Lücke, wie eine neue, von der Robert Bosch Stiftung geförderte Studie der Hochschule München zeigt: Während der Bevölkerungsanteil von Menschen mit Migrationshintergrund bei knapp 30 Prozent liegt, haben im aktuellen Bundestag lediglich 11 Prozent der Abgeordneten einen solchen Hintergrund – in den Landesparlamenten sind es im Schnitt sogar nur sieben Prozent. Daran ändert sich auch durch die jüngsten Landtagswahlen nichts. In Thüringen und Sachsen stagnieren die Zahlen, während sie in Brandenburg sogar zurückgegangen sind.

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REPCHANCE - Vielfalt in die Parlamente!

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Im Projekt „Repchance“ haben Wissenschaftler:innen in einer vergleichenden Studie in fünf europäischen Ländern untersucht, welche Faktoren politische und gesellschaftliche Karrieren von Menschen mit Migrationsgeschichte fördern oder behindern.

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Ohne gerechten Zugang zu politischen Ämtern droht Misstrauen in die Demokratie

Für eine demokratische Gesellschaft ist es unverzichtbar, dass alle Bevölkerungsgruppen, unabhängig von ethnischer Herkunft, Religion oder Hautfarbe, einen gerechten Zugang zu politischen Ämtern haben und in ihren Interessen vertreten werden. Andernfalls ist dies ein Signal an viele Menschen, dass sie nicht wichtig sind. Das Gefühl, in politischen Diskursen und Prozessen nicht repräsentiert zu sein, führt nachweislich zu Misstrauen und Unzufriedenheit mit der Demokratie. 

Warum aber wagen zu wenige Menschen mit Migrationshintergrund den Schritt in die Politik oder sind dort oft nicht längerfristig erfolgreich? Die Hochschule München hat für die REPCHANCE-Studie Mandatsträger:innen befragt und verschiedene Gründe gefunden: Startnachteile, die sich aus einer Migrationsbiografie ergeben, wie fehlende Ressourcen, Benachteiligungen in Bildung und Ausbildung und fehlende Netzwerke; Rassismuserfahrungen und die Zunahme von Hass und Hetze gegen Amt- und Mandatsträger:innen im Allgemeinen und solche mit Migrationshinter-grund im Speziellen; politische Parteien, die oft nur eine geringe Bereitschaft zeigen, sich aktiv um Menschen mit Migrationshintergrund zu bemühen und deren politische Ambitionen zu unterstützen. 

„Es geht nicht darum, unsere Parlamente „bunter“, sondern sie besser zu machen."

Zitat vonDr. Ferdinand Mirbach, Senior Expert Einwanderungsgesellschaft

Die Parteien könnten Teil der Lösung sein

Parteien sind aber nicht nur Teil des Problems, sondern können auch Teil der Lösung sein. Dazu müssen sie Mitglieder mit Migrationshintergrund fördern und ihre Vernetzung unterstützen – auch dadurch, dass sie bereits vorhandenen Mandatsträger:innen mehr Sichtbarkeit geben und ihre Erfolgsgeschichten hervorheben. Die Parteiführung muss die richtigen Werte vorleben, Diskriminierung in den Parteistrukturen bekämpfen und dabei jedes einzelne Parteimitglied in die Pflicht nehmen. Selbstverpflichtungen wie das Vielfaltsstatut der Grünen können helfen, sich nach außen klar zu positionieren und intern die richtige Richtung vorzugeben. Zudem müssen sie den Tokenismus, also die Instrumentalisierung als „Quotenmigrant:in“, beenden. Cem Özdemir wurde nach seiner Wahl in den Bundestag 1994 lange als erster türkischstämmiger Abgeordneter gefeiert. Noch 2005 klagte er: "Wenn ich 'Wir Deutsche' sage, gucken alle blöd.“

Konkret heißt das, dass die fachliche Kompetenz von Politiker:innen mit Migrationsgeschichte anerkannt und gefördert wird und sie nicht auf eine vermeintliche Kernkompetenz „Migration“ begrenzt werden. Das heißt auch, dass sie bei Kandidatennominierungen nicht übergangen oder auf schlechte Listenplätze verwiesen werden. Nach der Bundestagswahl 2021 lobte sich die SPD-Fraktion selbst dafür, dass 17 Prozent ihrer Abgeordneten einen Migrationshintergrund hätten, 7 Prozenpunkte mehr als 2017 und “mehr […] als bei den Grünen”. Zur Wahrheit gehört aber auch: Viele von ihnen hatten als aussichtslos geltende Listenplätze und sind nur dank einer unerwartet starken SPD ins Parlament eingezogen. 
 

"Wenn ich 'Wir Deutsche' sage, gucken alle blöd.“

Zitat vonCem Özdemir, Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft in Deutschland

Wähler:innen mit Migrationshintergrund könnten über Wahlausgang entscheiden

Für die demokratischen Parteien geht es dabei nicht nur um Ideale, sondern um knallharte Machtfragen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts lag der Anteil der Wahlberechtigen mit Migrationshintergrund bei den Bundestagswahlen 2017 bei zehn Prozent und 2021 bereits bei 14 Prozent. Durch Einbürgerungen und die Volljährigkeit der in Deutschland geborenen Kinder von Zugewanderten wird dieser Anteil noch weiter ansteigen und damit ihr Einfluss auf jeden Wahlausgang deutlich zunehmen – zumal Studien belegen, dass Wähler:innen mit Migrationshintergrund eher solche Parteien wählen, die Kandidat:innen aus der eigenen Community aufstellen. 
Neben Müller, Vogel oder von Notz brauchen die Parteien also mehr Özdemirs, Ziemiaks oder Özoğuzs auf den Wahllisten. Dabei geht es nicht darum, unsere Parlamente „bunter“, sondern sie besser zu machen. Mandatsträger:innen mit Migrationshintergrund bringen Erfahrungen und Fachkenntnisse ein, die die Debatte bereichern – und das in allen Politikfeldern. Sie sind nicht nur als Ausländerbeauftragte nützlich, sondern können dies ganz selbstverständlich auch als Landwirtschaftsminister sein. Wir leben in einer heterogenen Einwanderungsgesellschaft. Das muss sich auch in den Herzkammern unserer Demokratie widerspiegeln.

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