Julian Schmitz setzt an der Universität Leipzig mit dem „Monitor Bildung und psychische Gesundheit (BiPsy-Monitor)“ ein neues Forschungsprojekt um, mit dem die Versorgung von psychosozial belasteten Kindern und Jugendlichen in Praxen und Schulen verbessert werden soll. Warum das dringend notwendig ist, erzählt er im Interview.
Julian Schmitz: Die Pandemie war eindeutig eine lebensverändernde Krise, die alle Kinder, Jugendlichen und Familien getroffen hat. Und das ist wichtig für das Verständnis dafür, wie die Situation von Kindern und Jugendlichen aktuell ist – auch in den Schulen. Es war eine anstrengende Zeit, in der viele Lücken in den Entwicklungsgeschichten von Kindern entstanden sind. Nicht nur schulisch. Auch die sozialen Netzwerke, die sich bei Jugendlichen in diesem Alter bilden, wurden unterbrochen oder verhindert. Und nach der Pandemie gab es keine Pause, sondern es hieß: „Einen Gang hochschalten!“. Obwohl eigentlich alle erschöpft waren. Wir haben ein Gefühl dafür, dass es Kindern und Jugendlichen nicht gut geht, das hat auch die letzte Erhebung des Schulbarometers der Robert Bosch Stiftung ergeben. Aber tatsächlich wissen wir es nicht genau. Dazu fehlt uns eine noch gute Datengrundlage, ein repräsentatives und regelmäßiges Monitoring.
Leider muss man sagen, dass die Versorgungslage schon sehr lange schlecht ist. Und sie hat sich durch die COVID19-Pandemie weiter verschlechtert, gerade in ländlichen Gebieten. Es gab auch keine Reserven oder Puffer in diesem System. Wer früher lange auf Hilfe gewartet hat, auf einen Termin beim Schulpsychologen oder auf einen Therapieplatz, der muss heute noch länger warten. Leider sind Kinder und Jugendliche ein Thema, das gesellschaftlich keine große Rolle spielt. Das ist in der Gesamtperspektive ein großes Problem, da wir aus Forschungsstudien sehr eindeutig wissen, dass die meisten psychischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter bis zum frühen Erwachsenenalter beginnen und sich dann über die gesamte Lebensspanne hinweg fortsetzen.
…ja und oft wird das Narrativ bedient: Früher war es auch nicht leicht und das war auch kein Problem. Das suggeriert, dass Kinder früher im Prinzip psychisch gesund aufgewachsen sind und es zwar auch mal Belastungen gab, aber daraus keine großen Probleme entstanden sind. Oder anders: Man hat sich nicht gekümmert und das war auch okay. Aber heute sehen wir sehr viele Erwachsene, die nicht nur psychisch krank sind, sondern auch Psychopharmaka bekommen. Und das sagt uns, dass früher eben nicht alles in Ordnung war.
Ich glaube, wir müssen sehr viel systemischer denken. Das bedeutet, dass wir die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen – auch in der Schule – so gestalten müssen, dass sie die Möglichkeit haben, psychisch gesund aufzuwachsen. Dafür brauchen wir Personal. Die Pädagog:innen in den Schulen und in den Kitas spielen dabei eine ebenso zentrale Rolle wie die Therapeut:innen, da sie die Kinder und Jugendlichen jeden Tag begleiten. Das betrifft gerade die Kinder, die kein ressourcenstarkes Elternhaus haben. Denn sie sind darauf angewiesen, dass sie in ihrem Umfeld Hilfe bekommen.
Das Deutsche Schulbarometer hat gezeigt, dass Lehrkräfte vermehrt Verhaltensauffälligkeiten wie Ängste, Konzentrationsprobleme und körperliche Unruhe bei Schüler:innen bemerken. Das sind Eindrücke und Berichte aus dem Schulalltag. Was wir nicht haben, sind Daten, die diese Eindrücke erklären: Wie geht es Kindern und Jugendlichen insgesamt, aber auch in Schulen, wie haben sie Zugang zu Versorgung und welche Versorgungsstrukturen gibt es? Es gibt keine Studien dazu, wie viele Kinder und Jugendliche tatsächlich psychisch krank sind. Hier Abhilfe zu schaffen wäre eigentlich eine staatliche Aufgabe. Aber das geschieht nicht. Wir messen seit über 20 Jahren in der Pisa-Studie, wie die Lernergebnisse sind, aber wir messen nicht, wie es Kindern und Jugendlichen psychisch in der Schule geht. Und das ist absurd! Wir müssen auch die Versorgungssituation abbilden, um deutlich zu machen: Kinder sind nicht nur belastet, sondern sie finden auch keine Hilfe.
Ziel des Projekts ist ein bundesweiter Monitor, der die psychosoziale Versorgung von Kindern und Jugendlichen in ambulanten, psychotherapeutischen Versorgungsstrukturen sowie an Schulen abbildet. Dadurch soll die psychosoziale Versorgung von Kindern und Jugendlichen nachhaltig und datengestützt verbessert werden. Das Projekt ist im Februar 2023 gestartet und wird von der Universität Leipzig, der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover und der Robert Bosch Stiftung umgesetzt.
Das Deutsche Schulbarometer liefert mit seinen Ergebnissen die Grundlage und der BiPsy-Monitor erfasst und erstellt ein bundesweites repräsentatives Monitoring zur Versorgungssituation in den Praxen deutschlandweit. Und liefert damit Antworten auf die Fragen: Wie lange muss man auf ein Erstgespräch oder eine Therapie warten, welche Patient:innen werden behandelt? Und welche schulbezogenen Stressoren gibt es, derentwegen Kinder und Jugendliche in die Praxen kommen? Das ist relevant und wichtig. Und mit diesen Ergebnissen wollen wir langfristig Schule neu denken und so planen, dass sie eben nicht psychisch krank macht, sondern Wohlbefinden fördert.
Ich glaube, wir machen den großen Fehler, Schule als einen Prozess zu sehen, der durchlaufen wird, um Lernzuwachs und Lernkompetenzen zu erreichen. Die zentrale Zielgröße dabei sind Noten. Und damit ignorieren wir die individuellen Voraussetzungen, die Kinder und Jugendliche mitbringen müssen, um diesen Lernprozess gut zu gestalten. Dafür fühlt sich Schule in vielen Bereichen nicht verantwortlich. Aber das Ziel eines guten Unterrichts muss es sein, Wohlbefinden und Lernzuwachs in Einklang zu bringen.Ein Kind, das gestresst ist, Schlafstörungen hat, aber trotzdem sehr gute schulische Leistungen bringt, fällt in unserem Schulsystem nicht auf. Solange die Leistung stimmt, gibt es kein Problem. Und das ist prekär. Denn es zeigt, dass dieses System diese ganz wichtige Zielgröße, die psychische Gesundheit unserer Kinder und Jugendlichen, nicht bedenkt.
„Das Ziel eines guten Unterrichts muss es sein, Wohlbefinden und Lernzuwachs in Einklang zu bringen.“
Unbedingt. Dabei geht es auch darum, Kinder und Jugendliche als Expert:innen für ihr eigenes Wohlbefinden ernst zu nehmen. Wir wissen aus der Forschung, dass es viele Bereiche des Wohlbefindens gibt, die man von außen nicht beurteilen kann. In psychologischen Forschungsstudien haben wir oft sehr mäßige bis schlechte Übereinstimmung, wenn man Erwachsene und Eltern fragt, wie es Kindern geht und dann die Kinder selbst befragt. Gerade bei Gefühlen wie Traurigkeit, Selbstwahrnehmung oder Selbstbewusstsein. Und das bedeutet, man trifft unter Umständen viele wichtige, aber dann falsche Entscheidungen.
Mein größter Wunsch wäre, dass wir die Verantwortung dieser mächtigen Institution Schule nicht nur für Lernprozesse – im Sinne von akademischem Outcome – sondern auch für das Wohlbefinden denken. Dass wir also Bildungserfolg und Wohlbefinden gemeinsam denken und verstehen, dass sich beides bedingt. Das Wohlbefinden muss in Schulen den gleichen Stellenwert bekommen wie Mathematik-Scores und Deutschleistungen. Wir müssen anfangen, Daten zu erheben und unsere Schulprozesse darauf auszurichten. Das ist ein längerer Transformationsprozess, aber ich glaube, er ist notwendig. Betrachten wir nur den Fachkräftemangel: Wir können es uns gar nicht leisten, dass 20 oder 30 Prozent unserer späteren Erwachsenen psychisch krank werden und als Fachkräfte ausfallen. Wir müssen etwas tun. Alle Studien zeigen, dass die gesamtgesellschaftlichen Kosten steigen werden, wenn wir uns nicht um die psychische Gesundheit kümmern.
Die Robert Bosch Stiftung lässt seit 2019 für das Deutsche Schulbarometer regelmäßig repräsentative Befragungen zur aktuellen Situation der Schulen in Deutschland durchführen. In einer weiteren Ausgabe des Schulbarometers werden in 2024 zum ersten Mal Kinder, Jugendliche und Erziehungsberechtigte zu den Themen Wohlbefinden, Belastungsfaktoren und psychosoziale Versorgung befragt. Die Ergebnisse werden im Herbst 2024 veröffentlicht.