Mental Health in der Ukraine

Krisenchat: „Wir brechen ein Tabu, indem wir vermitteln: Es ist okay, sich Hilfe zu suchen“

Mit dem krisenchat Ukrainian fördert die Robert Bosch Stiftung schnelle und niedrigschwellige psychologische Unterstützung von Menschen in der Ukraine und diejenigen, die geflüchtet sind. Krisenchat-Mentorin Jewhenija Iwanowa berichtet, mit welchen Sorgen und Nöten sich die Menschen an sie wenden – und warum das Hilfsangebot immer wichtiger wird.

Text
Christian-Zsolt Varga
Bilder
iStock, krisenchat
Datum
17. Februar 2025
Lesezeit
8 Minuten

Frau Iwanowa, wie funktioniert der krisenchat?

Der krisenchat Ukrainian ist wie eine Notaufnahme, aber für psychologische Hilfe. Wer Unterstützung sucht, schreibt uns im Chat und bekommt in der Regel in wenigen Minuten ein Gespräch zugeteilt. Unser Ziel ist es, Menschen in akuten Krisensituationen sofort zu helfen.

Wie sieht Ihr typischer Arbeitstag aus?

Meine Schichten sind flexibel – mal tagsüber, mal mitten in der Nacht. Weil die Arbeit so intensiv ist, dauert jede Schicht maximal zwei Stunden. Wir beschäftigen uns mit schwerwiegenden Themen wie Selbstverletzung, Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) oder Suizidgedanken. Während der Schichten bin ich ständig online, um sofort antworten zu können, wenn jemand schreibt.

Wie läuft ein Chat ab?

Wir beginnen immer mit derselben Frage: „Wie kann ich Ihnen helfen?“ Danach fragen wir nach einem Namen, um die Person zuordnen zu können. Der Name muss dabei nicht echt sein. Außerdem erfassen wir das Alter und – besonders wichtig in der Ukraine – ob die Person in Sicherheit ist. Danach tauchen wir direkt in die Probleme ein. Die Gespräche sind tief und intensiv und dauern oft eine Stunde oder länger – auch wenn es sich bei den Chats um eine psychologische Ersthilfe handelt. In schwerwiegenden Fällen erklären wir den Hilfesuchenden, wo sie eine professionelle Versorgung bekommen können, und vermitteln sie weiter.

Zur Person

Jewhenija Iwanowa

lebt in Kyjiw und arbeitet als Psychologin. Neben ihrer Tätigkeit im krisenchat Ukrainian ist sie Professorin am Kyjiwer Institut für moderne Psychologie und Psychotherapie. Ihre Arbeit beim krisenchat leistet sie im Schichtsystem zusätzlich zu ihrer regulären psychotherapeutischen Praxis.

Mit welchen Sorgen und Ängsten wenden sich die Menschen am häufigsten an den krisenchat?

Die Themen sind so vielfältig wie die Menschen, die sich an uns wenden, aber der Krieg ist stets ein roter Faden. Kinder sprechen oft über Mobbing, besonders wenn sie nach einer Flucht neu anfangen müssen. Jugendliche kämpfen mit Fragen zur Identität oder sexuellen Orientierung, Themen, die in der Ukraine oft noch stigmatisiert sind. Erwachsene wiederum berichten von Einsamkeit, Anpassungsschwierigkeiten oder der ständigen Angst vor Bombenangriffen.

Wenden sich auch Soldat:innen an den krisenchat?

Ja, immer häufiger. Für sie ist der krisenchat oft die einzige Möglichkeit, Hilfe zu bekommen. Denn sie haben uns durch ihre Handys wortwörtlich in der Tasche, wir sind jederzeit verfügbar. Ich hatte schon viele Gespräche mit Soldat:innen, die nachts während ihrer Schichten schreiben. Einmal schrieb eine Soldatin über ihre starken Suizidgedanken. Sie fühlte sich von Dunkelheit und Tod umgeben und hatte eine Waffe an sich. Das war ein echter Krisenfall, doch sie schrieb weiter und blieb mit mir in Kontakt. Diese Gespräche sind besonders intensiv, aber auch unglaublich wichtig.

Haben sich die Themen im Laufe der Zeit verändert?

Bis Anfang 2024 ging es oft um die Trennung durch den Krieg, etwa: „Meine Frau ist im Ausland, ich vermisse sie.“ Solche Gespräche sind heute seltener geworden. Vielleicht, weil viele Paare die Belastungen nicht mehr ausgehalten und sich mittlerweile getrennt haben. Heute geht es öfter um Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, ausgelöst durch das Gefühl, dass der Krieg nie endet.

„Ich glaube, dass unsere Arbeit noch lange gebraucht wird, weil es so viele Fälle von Posttraumatischer Belasstungsstörung gibt.“

Zitat vonJewhenija Iwanowa
Zitat vonJewhenija Iwanowa

Wie bewältigen Sie und Ihre Kolleg:innen die emotionale Belastung durch diese Arbeit?

Es ist extrem herausfordernd. Selbst für uns, die wir alle professionelle Psycholog:innen sind. Wir helfen uns im Team gegenseitig: durch regelmäßige Supervision, Peer-Meetings und den gemeinsamen Austausch. Ich selbst bin auch in Psychotherapie. Das hilft mir, zwischen den Rollen zu wechseln und neue Kraft zu tanken.

Psychische Krankheiten sind noch immer ein Tabu. Kann der krisenchat dabei helfen, es zu brechen?

Ja, und das ist einer der wichtigsten Aspekte unserer Arbeit. Oft schreiben uns Menschen, dass uns eine Freundin oder ein Freund empfohlen hat. Diese Mund-zu-Mund-Propaganda zeigt, dass psychische Krankheiten langsam enttabuisiert werden. Und wir tragen dazu bei, indem wir vermitteln: Es ist okay, sich Hilfe zu suchen. 

Bräuchte es den krisenchat auch, wenn der Krieg bald vorbei wäre?

Ich glaube, dass unsere Arbeit noch lange gebraucht wird, weil es so viele Fälle von PTBS gibt. Sie betrifft Menschen, die sich wieder an ein normales Leben anpassen müssen, zum Beispiel zurückkehrende Soldat:innen oder Verletzte. Gerade haben wir es mit den direkten Folgen des Krieges zu tun. Aber wenn er irgendwann endet, werden neue Herausforderungen kommen. Es wird Menschen geben, die mit dem Ausgang des Krieges unzufrieden sind, die wütend auf die Welt sind. All das sind Konflikte, die in Zukunft eine kollektive Traumatisierung wie nach dem Zweiten Weltkrieg oder dem Zusammenbruch der Sowjetunion auslösen können. Damit das nicht passiert, müssen psychologische Dienste finanziell besser unterstützt werden – und frei verfügbar sein.

krisenchat Ukrainian

Der krisenchat Ukrainian wurde im März 2022 gegründet und bietet psychologische Unterstützung für Menschen, die unter extremen psychischen Belastungen durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine leiden. Seit seiner Gründung steigt die Nachfrage stetig, inzwischen gibt es Tausende Beratungen pro Jahr.

Die Robert Bosch Stiftung fördert das Angebot im Rahmen ihrer Ukraine-Förderung sowie des Bosch Health Campus. Zurzeit arbeiten 25 professionelle Psycholog:innen beim krisenchat, die für ihre Arbeit regulär vergütet werden. Der krisenchat greift auf ein großes Netzwerk zurück und vermittelt den Anrufenden bei Bedarf Hilfsangebote in ihrer Region.

Die Finanzierung solcher Angebote ist wichtig für die Planungssicherheit. Wie blicken Sie da in die Zukunft?

Ich mache mir Sorgen, da die Spendenbereitschaft für die Ukraine weltweit zurückgeht, während der Bedarf an schneller, kostenloser psychologischer Hilfe weiter steigt. Ohne Partner, die uns unterstützen, können wir nicht weitermachen. Unser Ziel ist es natürlich, weiterhin für die Menschen da zu sein – jetzt und in Zukunft. Deshalb machen wir weiter, solange wir können.

Die Finanzierung ist das eine, es braucht aber auch Fachpersonal. Gibt es denn genug ausgebildete Psycholog:innen in der Ukraine, um diesen enormen Bedarf zukünftig zu decken?

Ich bin optimistisch, was die Zahl angeht. Als Professorin am Kyjiwer Institut für moderne Psychologie und Psychotherapie sehe ich, dass viele junge Menschen heute Psychologie studieren wollen. Doch das Problem ist wieder die Finanzierung: Psychologische Dienste müssen finanziell besser unterstützt werden, sonst bleiben sie für viele unerreichbar. Und das können wir uns als Gesellschaft nicht leisten. Natürlich gibt es Netzwerke und Organisationen, die Unterstützung bieten. Doch das reicht längst nicht für alle.

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