Mitbestimmen, wie das Lernen an ihrer Schule besser wird: Für die Schüler:innen an der IGS Buchholz in Niedersachen sind demokratische Strukturen gelebter Schulalltag. Ob ein neues Lernzeitkonzept oder die Gestaltung der Gruppenräume – ihre Stimmen im Schülerparlament oder im Team der Schülersprecher:innen haben Gewicht und können etwas verändern.
„Was würde eine gute Lernzeit für euch ausmachen?“ – „Wir bräuchten mehr Ruhe. Gruppenarbeit und Einzelarbeit im selben Raum funktionieren nicht. Man müsste erst mal das Lernen lernen und Strategien haben, wie man seine Zeit besser einteilt. Wir …“ Auf die kurze Frage von Anke Ott, die gerade kommissarisch die didaktische Leitung an der Integrierten Gesamtschule in Buchholz in der Nordheide (IGS Buchholz) hat, kommen spontan zahlreiche Antworten aus dem Schülersprecherteam, das zu seiner heutigen Sitzung zusätzlich einige Klassensprecher:innen eingeladen hat.
Es ist kurz vor den Sommerferien, und während sich andere Schüler:innen schon gedanklich an ferne Orte träumen, diskutiert das Team, was sich in der nahen Zukunft ändern muss, damit die Lernzeit an ihrer Schule besser funktioniert. Die Lernzeit ist etwas Besonderes an der IGS Buchholz. Mit der Lernzeit sollen den Schüler:innen Wege und Methoden aufgezeigt werden, wie sie ihre Selbstständigkeit fördern können. Die eigenen Zielsetzungen und die Reflexion über das eigene Lernen stehen hier im Fokus.
Wie diese Lernzeit am besten umgesetzt werden kann, wird heute diskutiert. Fünftklässler:innen sagen bei diesem ersten Brainstorming ebenso selbstbewusst ihre Meinung wie Acht- oder Zwölftklässler:innen. „Jede:r Schüler:in hat die gleichen Rechte“, bringt der siebzehnjährige Malte die demokratische Schulkultur der IGS auf den Punkt. Das findet auch der elfjährige Bruno. Auf die Frage, wieso er sich als Schulsprecher engagiert, erklärt er: „Es ist wichtig, dass alle ihre Ideen äußern können, sodass eine Lösung kommt, die für alle gut ist!“ Und auch die achtzehnjährige Emmely findet: „Wir sind eine große Schule, und trotzdem fühlt sich jede:r gehört, weil die Klassen durch uns Klassensprecher:innen vertreten sind.“
Die IGS Buchholz in Niedersachsen ist eine integrierte Gesamtschule, mit 1.257 Schüler:innen aller Schulformen von der fünften Klasse bis zum Abitur, aufgeteilt in 49 Klassen. Das Besondere an der IGS Buchholz ist die aktive Partizipation der Schüler:innen. „Eine hohe Partizipation aller Beteiligten gehört von Beginn an zum Geist unserer Schule, ebenso wie der offene und konstruktive Umgang innerhalb der Schulgemeinschaft. So waren zum Beispiel Eltern Teil der Planungsgruppe zur Gründung der Schule, auch die Schüler:innen bekamen von Anfang an Mitspracherechte und eigene Gestaltungsmöglichkeiten. Außerdem nehmen Schüler:innen ab Jahrgang 5 an schulinternen Fortbildungen teil, um gemeinsam mit uns den Unterricht weiterzuentwickeln“, erklärt der ehemalige Schulleiter Holger Blenck. Er leitete die Schule seit der Gründung 2010 bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2023.
Die Schule legt großen Wert darauf, dass die Schüler:innen in Entscheidungsprozesse einbezogen werden und ihre Meinungen und Ideen zum Schulgeschehen Gehör finden. Ein wichtiges Instrument für die Mitsprache der Schüler:innen ist dabei das Schülerparlament. Das Schülerparlament bietet die Möglichkeit, ihre Anliegen zu diskutieren und gemeinsam Lösungen zu erarbeiten. Dadurch werden sie in die Gestaltung des Schullebens eingebunden und können ihre Schule aktiv mitgestalten. Das verankert die Schule auch offiziell in den drei zentralen Begriffen ihres Schulprogramms: „Vielfalt – Individualisierung – Demokratie“.
„Wer ein Amt bekleidet, der darf hier auch wirklich mitwirken.“
„Demokratische Strukturen im Kleinen zu verankern“, sagt Anke Ott, das sei ein wichtiges Ziel an ihrer Schule, die 2022 mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet wurde. Demokratieförderung geschieht an der IGS durch eine Reihe von Beteiligungsmöglichkeiten und Ämtern für Schüler:innen aller Stufen. „Wer ein Amt bekleidet, der darf hier auch wirklich mitwirken“, betont Ott. Angefangen bei Klassen- und Jahrgangssprecher:innen bis hin zur Schülervertretung, dem Schülersprecherteam und der Schulentwicklungsgruppe, in der auch Lehrkräfte und Eltern vertreten sind.
Die Schülervertretung ist das Schülerparlament der IGS Buchholz. Rund 90 Klassensprecher:innen tagen zweimal jährlich oder wenn sich spontan wichtige Punkte ergeben. In der Regel wird über Themen aus dem Bereich Schulentwicklung abgestimmt. Auch das Team aus fünf bis sechs Schülersprecher:innen wird von diesem Gremium gewählt. Paul ist einer von ihnen. Der Siebzehnjährige gehört nun schon zu den alten Hasen. In der Schulsprechergruppe, die heute das Thema Lernzeit diskutiert, redet der Elftklässler sachlich und formuliert seine Argumente ohne große Aufregung. Und wie war das, als er für die Wahl in das Schülersprecherteam kandidierte? „Ich hab mich seit der Sechsten als Klassensprecher engagiert und wollte mich schon immer aufstellen lassen – hab dann aber gezögert. Ich denke, es war Schüchternheit.“ In der zehnten Klasse habe er schließlich seinen Mut zusammengenommen.
Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung auf die Menschen, das Miteinander und die Arbeit? Kreativität, Sozialkompetenz und Technologieverständnis werden in Zukunft essenziell, aber auch das kooperative Problemlösen bleibt wichtig. Bildung muss Wissen, aber auch kreative, soziale und technische Fähigkeiten fördern. Die Robert Bosch Stiftung unterstützt Bildungseinrichtungen dabei, diesen Wandel konstruktiv für Lernprozesse zu nutzen.
Warum er Schülersprecher sein will? Es mache ihm Spaß, sich einzusetzen, und er wolle an seiner Schule etwas verändern. Im Laufe der Zeit habe er auch die Erfahrung gemacht, dass man von den Lehrkräften in dieser Position ernster genommen werde. Ein gutes Gefühl, wenn die eigene Stimme mehr Gewicht hat und man gemeinsam etwas erreichen kann. Und die Zwölftklässlerin Emmely betont, dass man als Klassen- oder Schülersprecher:in eben nicht nur für sich stehe, sondern für eine große Gruppe. So werde man viel eher gehört, findet sie.
Vor dem Schülerparlament zu stehen, frei zu reden, sich mit einer kleinen Wahlkampfrede für sein Amt zu bewerben, in Gremien zu diskutieren – das alles, so Deutschlehrerin Anke Ott, sei „Demokratielernen in einem geschützten Raum“. Es gehe darum, mitzuwirken und etwas in kleinen Schritten zu verändern. „Die Strukturen sind dann natürlich übertragbar auf Strukturen, die wir im öffentlichen Raum haben.“
Das Schülerparlament ist eine Investition in die Zukunft der Demokratie, die für die didaktische Leiterin selbst ganz normal ist. Sie wundere sich daher immer, wenn aus der Elternschaft das Feedback komme, dass längst nicht alle Schulen ihre Schüler:innen auf diese Weise einbinden. Schließlich lernen Schüler:innen, die frühzeitig in partizipative Prozesse involviert sind, demokratische Werte wie Meinungsfreiheit, Toleranz und Kompromissbereitschaft schon von klein auf. Sie entwickeln auch wichtige Fähigkeiten wie Kommunikation, Teamarbeit und kritisches Denken. Zudem fördert die frühe Beteiligung ein positives Schulklima und stärkt nicht nur das Gemeinschaftsgefühl, sondern auch das individuelle Selbstvertrauen. Schülerinnen und Schüler fühlen sich als Teil einer größeren Gemeinschaft und tragen aktiv zum Schulleben bei. An der IGS Buchholz ist Partizipation Schulalltag – in allen Bereichen. Auch über den Einsatz des Preisgeldes des Deutschen Schulpreises in Höhe von 30.000 Euro wurde demokratisch entschieden.
„Die Schulleitung hat uns aufgefordert, Ideen zu sammeln, und dann kamen unendlich viele Vorschläge“, erzählt Paul. Zusammen mit der Schulleitung habe das Schülersprecherteam die besten ausgesucht, entschieden wurde auf einer Sitzung des Schulvorstands. In diesem Gremium sind Schulleitung und Lehrkräfte ebenso vertreten wie Eltern und Schüler:innen.
Neben einem Schulcafé, einem Sofa, einem Kreativraum und einer Drohne ist die Schulgemeinschaft nun stolze Besitzerin eines 3-D-Druckers. Aber das Beste, finden Paul, Emmely, Bruno und die anderen, sei die Photovoltaikanlage. Sie ist derzeit noch in Planung. Wenn sie dann in Betrieb ist, darf die Schülervertretung über die Verwendung der eingesparten Stromkosten zugunsten der Schule mitentscheiden. So haben auch die nachfolgenden Schülergenerationen etwas vom Preisgeld. Damit ist die Entscheidung nicht nur ein Lehrstück in Demokratie, sondern auch noch in Sachen Nachhaltigkeit und Uneigennützigkeit. Das gilt besonders für die Oberstufenschüler:innen, die die Schule in ein oder zwei Jahren verlassen und deren Engagement jetzt vor allem der Unter- und Mittelstufe zugutekommt.
Ebenso werden Paul, Emmely und Malte von einem neuen Lernzeitkonzept selbst gar nicht mehr profitieren. Zum einen, weil die Lernzeit nur für die fünfte bis elfte Klasse gedacht ist, und zum anderen, weil demokratische Willensbildung Zeit braucht. Auch in der Schule. Aber immerhin: Der erste Schritt ist getan. Die zahlreichen Ideen für eine bessere Nutzung der Lernzeit wurden in einer Mindmap festgehalten und von Anke Ott später in ein Padlet, eine Art digitale Pinnwand, übertragen.
Jetzt hat das Thema Lernzeit noch einige Schleifen vor sich. Nach den Sommerferien trifft sich die Schulentwicklungsgruppe der IGS. Neben den Schüler:innen bringen dann auch die Eltern und die Lehrkräfte ihre Ideen für eine bessere Lernzeit mit. Ob in einer kleineren Arbeitsgruppe oder in der großen Schulentwicklungsgruppe weiter am neuen Konzept gefeilt werden soll, wird noch entschieden, so Ott. „So oder so wären in beiden Gruppen Schüler:innen mit dabei“, betont die didaktische Leiterin. Immerhin seien sie diejenigen, die es am meisten betrifft. Am Ende des Prozesses, dessen Ergebnis in der Gesamtkonferenz noch durch den Schulvorstand abgesegnet werden muss, steht schließlich die überarbeitete Lernzeit, die möglichst viele der von allen Seiten eingebrachten Wünsche enthält.
Und was, wenn sich die Schülerschaft komplett gegen ein Thema ausspricht? Die Entscheidungen des Schülerparlaments haben schon Macht, findet Paul. Zu einer wirklichen Kollision der Interessen komme es aber selten. Die demokratischen Strukturen sind an der IGS Buchholz auf Konsens ausgelegt. „Bevor es überhaupt zu einer Abstimmung in der Gesamtkonferenz kommt“, so der Schülersprecher, „formulieren wir unsere Verbesserungsvorschläge.“ Und auch Ott bekräftigt, dass Vorschläge oder Konzepte, mit denen die Schüler:innen gar nicht einverstanden sind, eigentlich immer im Vorfeld so weiterbearbeitet werden, dass sich am Ende alle berücksichtigt sehen. Wirklich demokratisch eben.
Die Lehrkräfte auf der einen und die Schüler:innen auf der anderen Seite: Diese Art zu denken scheint an der IGS Buchholz ohnehin weit entfernt. „Wir sehen uns als Schulgemeinschaft“, betont die didaktische Leiterin Ott. „Wir wollen ja nicht sagen, wir machen Schule mit Kindern – und die Schüler:innen werden dabei nur als Objekt gesehen. Nein, die Schüler:innen sind gleichberechtigt. Sie haben eine Stimme. Sie sind mit uns auf Augenhöhe.“ Gerade wenn es um ganz neue Themen gehe, denke sie immer die Schüler:innen mit, so Ott. Auch bei der geplanten Neugestaltung der Gruppenräume. „Mein Anspruch ist, zu fragen: Was habt ihr für Ideen? Ihr seid ja diejenigen, die dort sitzen. Warum findet ihr den Raum nicht schön? Was müssen wir verändern? Was würde euch helfen, damit hier eine gute Arbeitsatmosphäre herrscht?“ Viele neue Fragen, auf die Bruno, Paul und die anderen sicher viele Antworten haben. Aber jetzt ist auch für engagierte Schüler:innen erst mal eins wichtig: Sommerferien!