Seit Jahren streiten Politik, Medien und Öffentlichkeit über die Frage, ob der Islam zu Deutschland gehört. Blickt man auf die Geschichte und auf die heutige gesellschaftliche Realität, liegt die Antwort auf der Hand. Hier sind acht Gründe, warum Islam und Muslim:innen selbstverständlich ein Teil Deutschlands sind.
Wussten Sie, dass sich Preußen auf der Pariser Weltausstellung von 1867 mit einer Moschee präsentierte? Oder dass Bayerns „Märchenkönig“ Ludwig II. Gäste gern im Sultansgewand bei Wasserpfeife und Datteltörtchen empfing? Karl der Große hielt sich einen Elefanten namens Abu Abbas (ein Geschenk des abbasidischen Kalifen Harun Al-Raschids), am Hof von Friedrich II. lehrten muslimische Mathematiker und Philosophen und in der preußischen Armee diente eine Einheit aus Tartaren: Spuren des Islam finden sich überall in der deutschen Geschichte. „Zur Heimat gehört, was da ist. Und der Islam ist sehr schon lange da“, sagte Rudolf Neumaier, Geschäftsführer des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege, jüngst im Rahmen unseres Projekts Islamberatung Bayern.
2015 startete die Robert Bosch Stiftung mit der Katholischen Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart und der Hochschule für öffentliche Verwaltung Kehl das Projekt der Islamberatung, mit Hussein Hamdan als dem ersten Islamberater Deutschlands. Das Ziel: die islambezogene Kompetenz in Kommunen zu stärken und muslimische Akteur:innen bei der Einbindung in kommunale Kommunikations- und Entscheidungsprozesse zu unterstützen. Weil sich die Islamberatung in Baden-Württemberg mit vielen Beratungsanfragen erfolgreich etablierte, übernahm das Land Baden-Württemberg schließlich die Förderung. 2019 wurde die Islamberatung auch in Bayern eingeführt und dort von Beginn an vom Freistatt Bayern unterstützt; Trägerin ist die Eugen-Biser-Stiftung. Inzwischen finanziert auch das Bundesinnenministerium ein Projekt nach dem Vorbild der Islamberatung. Seit 2024 gibt es die Islamberatung außerdem in Gemeinden in Österreich und der Schweiz.
Von Goethes „West-östlicher Divan“ über Mozarts „Die Entführung aus dem Serail“ bis Karl Mays „Orientzyklus“, von der Roten Moschee im Schwetzinger Schlossgarten über Berlins Neue Synagoge bis zu Dresdens „Tabakmoschee“ Yenizde: Der „Orient“ galt den Deutschen des 18. und 19. Jahrhundert als Sehnsuchtsort und Inspiration. Auf die Idee, dass der Islam nicht zu Deutschland gehört, kamen unsere Vorfahren nicht. Zum Glück! Die deutsche Kultur wäre um einiges ärmer.
Was wäre Deutschland ohne sein „Wirtschaftswunder“? Mit daran beteiligt: Muslim:innen. Rund 14 Millionen so genannte Gastarbeiter kamen zwischen 1955 und 1973 in die Bundesrepublik, viele von ihnen aus muslimisch geprägten Ländern wie der Türkei, Jugoslawien, Marokko und Tunesien. Viele ihrer Nachfahr:innen sorgen heute selbst für Jobs. Allein türkeistämmige Menschen, unter denen sich auch viele säkulare und alevitische Menschen befinden, betreiben heute mehr als 80.000 Unternehmen in Deutschland und sichern damit über 400.000 Arbeitsplätze (Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung). Nebenbei dienen sie als Brückenbauer zwischen der deutschen Mehrheitsgesellschaft und ihrer alten Heimat.
Im Bundestag diskutieren Serap Güler und Lamya Kaddor über die nächste Rentenreform, in der Fußballnationalmannschaft spielen sich Kapitän İlkay Gündoğan und Antonio Rüdiger die Bälle zu, in der Talkshow polarisiert Ahmad Mansour und ohne das Forscherehepaar Ugur Sahin und Özlem Türeci hätten wir vielleicht immer noch keinen Corona-Impfstoff.
Muslim:innen sind aus der deutschen Gesellschaft längst nicht mehr wegzudenken. Das zeigt auch die Statistik: Zwischen 5,3 und 5,6 Millionen Menschen in Deutschland sind muslimischen Glaubens (Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Damit sind Muslim:innen die größte religiöse Minderheit in Deutschland – und die am schnellsten wachsende. „Muslime leisten ihren Beitrag zu dieser Gesellschaft: sei es in Politik, Medien oder Wissenschaften.“ Das sagt Dr. Hussein Hamadan, der als Deutschlands erster Islamberater Muslim:innen und deutsche Kommunal-Beamt:innen einander näherbringt. Ein Deutschland ohne Muslim:innen könne er sich gar nicht mehr vorstellen: „Der Islam ist Teil der deutschen Realität.“
Sind Muslim:innen die besseren Demokrat:innen? Auf jeden Fall nicht die schlechteren! In einer repräsentativen Studie stimmten 81 Prozent der in Deutschland lebenden Muslim:innen der Aussage zu, dass es sich bei der Demokratie um die beste Staatsform handle. In der Gesamtbevölkerung waren es nur 70 Prozent. Auch in Sachen Spendenbereitschaft und ehrenamtlichem Engagement übertreffen Muslim:innen den deutschen Durchschnitt. „Muslim:innen sind nicht nur in ihren Gemeinden aktiv, sondern auch in Schulen, Vereinen und im Sport genauso wie in der Senioren-, Nachbarschafts- und Geflüchtetenhilfe.“ Das sagt Ayten Kılıçarslan, Projektpartnerin in unserem ehemaligen Programm „Muslimische Frauen engagieren sich“. Allein beim „Sozialdienst muslimischer Frauen“, dem Kılıçarslan vorsteht, engagieren sich über 1.300 Menschen. Das einzige, was ihnen oft fehle: öffentliche Wahrnehmung und Anerkennung. Die schlage sich auch in mangelnder Förderung nieder, sagt Kılıçarslan.
Muslimische Frauen aus unserem Programm „Mitgestalten“ sprechen über Vorurteile, mit denen sie im Alltag konfrontiert sind – und über die Zukunft, die sie sich für ihre Töchter wünschen.
Von Admiral über Kaffee bis Zenit: Die deutsche Sprache zeugt vom jahrhundertelangen Austausch mit der islamischen Welt. Viele Lehnwörter, die arabische Mathematiker und Philosophen in den „Okzident“ brachten, lassen sich am arabischen Artikel „Al“ erkennen: Alkohol, Algebra, Almanach, Algorithmus… In modernen Zeiten ist es eher die Pop- und Jugendkultur, die den Arabisch-Anteil in der deutschen Sprache erhöht: Ohne Habibi („mein Liebling“), Yallah („los!“) und Talahon (wörtlich: „komm her“, jugendsprachliche Bezeichnung für junge Menschen mit stereotypem Auftreten) kommt man heute weder in den Charts noch auf Schulhöfen besonders weit. Und vom Ursprung unserer Zahlen wollen wir besser gar nicht erst anfangen. Wallah („Ich schwöre bei Gott“)!
Gebetsstätten errichten, Religionsunterricht abhalten, Theolog:innen ausbilden, Tote nach eigenem Ritus begraben, sich in Religionsgemeinschaften organisieren, Kopftuch tragen: Das alles sind keine Fragen von politischen Debatten, es sind Grundrechte, die sich aus der deutschen Verfassung ergeben. „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“ So steht es in Artikel 4 des Grundgesetzes. Dieses gilt für christliche, jüdische, buddhistische und hinduistische Gläubige genauso wie für muslimische.
Die Zahl antimuslimischer Straftaten und Diskriminierungsfälle in Deutschland ist so hoch wie nie. Das zeigen jüngste polizeiliche Kriminalstatistiken sowie Berichte von Dokumentationsstellen wie CLAIM und der Anti-Diskriminierungsstelle des Bundes. Zu steigender Muslimfeindlichkeit tragen auch öffentliche Debatten bei, die Muslim:innen als fremd markieren und ihnen die Zugehörigkeit absprechen (Quelle: Bericht des unabhängigen Expertenkreises Muslimfeindlichkeit).
„Vor allem Frauen, die Kopftuch tragen, erfahren häufig Übergriffe“, sagt Volker Nüske, Senior Projektmanager für das Thema Einwanderungsgesellschaft bei der Robert Bosch Stiftung. Im Rahmen dieses Themas will die Stiftung einen Beitrag leisten, Selbstwirksamkeit zu stärken: von Muslim:innen genauso wie von allen anderen Menschen unserer Einwanderungsgesellschaft. Das einzige, was Muslim:innen vom Rest der Gesellschaft unterscheide, so Volker Nüske: „Dass ihre Zugehörigkeit ständig infrage gestellt wird.“