Perspektiven von Menschen in prekären Lebenssituationen

Forderungen für eine gerechte Zukunft

In den Debatten um unsere Zukunft kommen vor allem jene zu Wort, die über Ressourcen oder ein gutes Netzwerk verfügen. Unser Partner denkhausbremen hat weniger privilegierte Menschen gefragt, was es aus ihrer Sicht für eine gerechtere Zukunft braucht. Herausgekommen ist ein Forderungskatalog, den wir hier vorstellen.

Text
Peter Gerhardt, Ulrike Eppler, Michael Gerhardt
Bilder
IMAGO/epd
Datum
09. April 2025

An den Diskussionen über die Zukunft unserer Gesellschaft sind vor allem diejenigen beteiligt, die nicht ständig damit beschäftigt sind, „über die Runden zu kommen”. Diese Ungleichheit wirkt wie ein Gift für die Demokratie, denn sie ist darauf angewiesen, dass sich möglichst viele Menschen gleichberechtigt an Entscheidungen beteiligen können. Unser Partner denkhausbremen hat jetzt im Rahmen des von der Robert Bosch Stiftung geförderten Projektes „Das soziale 1,5-Grad-Ziel“ einen Forderungskatalog veröffentlicht. An ihm haben Menschen mitgearbeitet, die bei Zukunftsdebatten sonst nicht am Tisch sitzen: Die sich abgehängt fühlen, wenig Geld oder keine Wohnung haben, mit Krankheit oder Behinderungen leben oder zugewandert sind.

Der Katalog ist das Ergebnis einer Reise von denkhausbremen, die ab dem Jahr 2018 quer durch Deutschland führte. Das denkhausbremen-Team Peter Gerhardt, Ulrike Eppler und Michael Gerhardt hat Menschen aus bundesweit 25 Initiativen kennengelernt, ihnen zugehört und aufgeschrieben, was sie antreibt und was sie zu sagen haben. Herausgekommen ist ein Appell, die Zukunft gemeinsam zu gestalten. Im Mittelpunkt des Forderungskatalogs stehen die Anliegen der beteiligten Gruppen. Es geht um Solidarität, faire Chancen für alle und Zusammenhalt.

Das soziale 1,5-Grad Ziel
Forderungskatalog

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Auf der Suche nach dem sozialen 1,5 Grad Ziel. Forderungen für eine gerechte Zukunft.

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Der Katalog liefert Antworten darauf, wie der fortschreitenden Ungleichheit verbunden mit der Ökonomisierung vieler Lebensbereiche etwas entgegengesetzt werden kann. Entstanden sind Forderungen zu den Themen Demokratie und Gemeinschaftlichkeit, Wohnen, Gesundheit, Steuern, Arbeit und soziale Sicherung. Wir stellen im Folgenden Auszüge aus dem Forderungskatalog vor.

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Demokratie und Gemeinschaftlichkeit
Gemeinschaft muss wieder stärker betont und gelebt werden. Sie ist der viel zitierte Kitt, der eine Gesellschaft zusammenhält. In der Gemeinschaft können sich alle als Teil des Ganzen erfahren. Voraussetzung für Gemeinschaftlichkeit sind jedoch gerechtere, inklusive und barrierefreie Bedingungen für möglichst alle Bürger:innen.

  • Im öffentlichen Raum sollten Begegnungsräume für alle Schichten der Gesellschaft bereitgestellt werden, in denen kein Konsumzwang herrscht.
  • Sharing-Initiativen, Gemeingüter und gemeinwohlorientierte Projekte sollten gefördert und ausgebaut werden.
  • Die Parlamente sollten sämtliche Schichten der Gesellschaft abbilden sowie mehr Beteiligung von Bürger:innen an demokratischen Prozessen ermöglichen.
  • Barrierefreiheit und Diskriminierungsschutz müssen in allen Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge gewährleistet sein. Dabei sind alle Arten von Barrieren zu berücksichtigen
    - nicht nur Rollstuhlzugänglichkeit, sondern auch Barrieren im Bereich von Sinnesbehinderungen, schwerer Sprache oder psychischen Belastungen.
  • Die Bemessungsgrundlage für den Erfolg eines Staates und seiner Wirtschaft muss der Nutzen für die Menschen sein und sich an Kriterien wie Lebenserwartung, Zufriedenheit, Demokratie und Gleichberechtigung sowie der Erhaltung der ökologischen Lebensgrundlagen orientieren.

„Ungleichheit wirkt wie ein Gift für die Demokratie, die ihre Legitimation daraus schöpft, dass möglichst viele Menschen die Chance und Möglichkeit haben, sich gleichberechtigt an der Meinungsbildung und den daraus resultierenden Entscheidungen zu beteiligen.“

Zitat vonPeter Gerhardt, Geschäftsführer, denkhausbremen
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Gesundheit 
Armut macht krank und Krankheit macht arm. In kaum einem Lebensbereich lässt sich so deutlich in Zahlen messen, wie oben und unten immer weiter auseinanderdriften. In finanziell schlechter gestellten Stadtteilen, sind chronische Krankheiten weiter verbreitet und die Menschen sterben deutlich früher. Umgekehrt sind Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt. Grundsätzlich sollte das Gesundheitswesen nicht gewinnorientiert organisiert sein.

  • Die Zwei-Klassen-Medizin, die in Kassen- und Privatpatient:innen unterscheidet, sollte abgeschafft werden. Stattdessen sollte eine für alle verpflichtende Bürgerversicherung eingeführt werden.
  • Vorsorge- und Früherkennungsuntersuchungen sollten für alle Menschen zugänglich sein. Die Aufklärung und Information darüber muss verbessert werden.
  • Die Anzahl und flächendeckende Verteilung von Ärzt:innen muss verbessert werden, sodass zeitnahe Termine und Behandlungen möglich sind.
  • Die psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung muss deutlich verbessert werden. Das Hilfesystem muss ergänzt werden durch gemeindepsychiatrische Angebote und Weglaufhäuser für Menschen, für die eine klassische stationäre Behandlung nicht in Frage kommt.
  • Menschen, die einen Anspruch auf Zuzahlungsbefreiung für medizinische Leistungen haben, dürfen dafür nicht in finanzielle Vorleistung treten müssen.
  • Die Gesundheitsförderung muss ausgebaut werden. Dazu gehören gut ausgestattete Gesundheitsämter, gesundes Essen in öffentlichen Einrichtungen wie Schulen und breit angelegte Aufklärungskampagnen.
  • Die Gesundheitsversorgung muss gemeindenah organisiert werden. Die Einrichtung von Gesundheitszentren und lebensweltorientierten Hilfen ist notwendig.
     
Über das Projekt

Das soziale ­1,5-Grad-Ziel

Zur Projektseite

Während es in der Klimapolitik mit dem 1,5-Grad-Ziel ein klare Zielmarke gibt, existieren für die sozialen Aspekte des gesellschaftlichen Umbruchs bisher keine Leitlinien, die Orientierung geben könnten. Um diese Lücke ein Stück weit zu schließen, arbeitete denkhausbremen im Projekt „Das soziale 1,5-Grad-Ziel“ an konkreten und überprüfbaren Leitplanken für einen gerechten Wandel. 

Zur Projektseite

„Die Zukunft wird nur dann sozial gerecht und ökologisch verantwortungsvoll sein, wenn möglichst viele Menschen an Bord sind und mitentscheiden. Unser Beitrag dazu liegt jetzt auf dem Tisch.“

Zitat vonUlrike Eppler, Projektleiterin, denkhausbremen
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Umweltgerechtigkeit
Wir brauchen eine solidarische und fürsorgliche Gesellschaft, die Soziales und Umwelt zusammen denkt. Doch bislang entscheidet eher der Geldbeutel darüber, ob und wie stark Menschen von Umweltbelastungen betroffen sind. Dabei sind es die Reichen, die einen besonders großen ökologischen Fußabdruck haben und deren Lebenswirklichkeit sich auf dem Weg zur Nachhaltigkeit dramatisch ändern müsste. Umweltschutz kann in einer demokratisch verfassten Gesellschaft aber nur dann nachhaltig erfolgreich sein, wenn Nutzen und Lasten möglicher Veränderungen gerecht verteilt werden. 

  • Fahrscheine für den öffentlichen Verkehr müssen analog und in bar erhältlich sein. Steuerprivilegien, von denen vor allem Wohlhabende auf Kosten der Umwelt profitieren, sollten sofort abgeschafft werden. Hierzu zählen Vergünstigungen wie steuerfreies Kerosin für den Privatjet oder Steuervorteile für Dienstlimousinen.
  • Der soziale Ausgleich für zu erwartende finanzielle Härten bei Umweltschutzmaßnahmen muss im Vorfeld geklärt werden.
  • Verschleißproduktion muss reduziert werden und Reparatur sollte gefördert werden.
  • Projekte, die es auch Menschen mit wenig Geld ermöglichen, sich aktiv am Umwelt- und Klimaschutz zu beteiligen, sollten mit hoher Priorität gefördert werden. Wie zum Beispiel Balkon-Photovoltaikmodule für Sozialleistungsempfänger:innen.
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