Politik an der Basis

Zwischen Gewalt und Bürgerdialog:­ 2 Abgeordnete berichten

Immer häufiger werden Politiker:innen angefeindet oder gar Opfer von Gewalt. Die Bundestagsabgeordneten Markus Reichel (CDU) und Kassem Taher Saleh (Bündnis 90/Die Grünen) berichten, wie sie damit umgehen und weshalb sie weiter an den Bürgerdialog glauben.  

Text
Helen Hahne
Bilder
Getty Images; Deutscher Bundestag/Jörg Carstensen/photothek; PR
Datum
05. Juni 2024
Lesezeit
8 Minuten

Politiker:innen werden zunehmend zur Zielscheibe von Beleidigungen, Drohungen und Hetze. Die digitale und die körperliche Gewalt hat in den letzten Jahren erheblich zugenommen – und stellt eine ernsthafte Gefahr für die Demokratie und das gesellschaftliche Miteinander dar. Besonders stark betroffen sind Frauen und Personen mit Migrationsgeschichte. Die Angriffe auf den SPD-Spitzenkandidaten für die Europawahl, Matthias Ecke, und Wahlkampfhelfer:innen der Grünen in Sachsen Anfang Mai sind erschreckende Beispiele. Doch unsere Demokratie lebt vom Dialog: egal ob bei Online- oder Präsenzveranstaltungen, bei politischen Debatten auf Instagram oder an Wahlkampfständen. Die Zivilgesellschaft zeigt derzeit starkes Engagement gegen Hass und Hetze, auch Politiker:innen werden gemeinsam aktiv. So wie die Bundestagsabgeordneten Kassem Taher Saleh (Bündnis 90/Die Grünen) und Markus Reichel (CDU), die ihre Wahlkreise in Sachsen haben. Sie sind Erstunterzeichner der „Striesener Erklärung“, mit der Politiker:innen aller demokratischen Parteien auf den Angriff auf Matthias Ecke reagiert haben.

In unserem Protokoll berichten sie, welche guten und schlechten Erfahrungen sie im Dialog mit Bürger:innen gemacht haben, warum sie den direkten Austausch besonders schätzen und was eine demokratische Gesellschaft heute leisten muss. 

Kassem Taher Saleh: „Aufgeben werde ich nicht“

„Wie sich die politische Stimmung entwickelt, macht mir Sorgen. Und zwar nicht nur in Ost-, sondern in ganz Deutschland. Ich habe aktuell zwölf Anzeigen laufen, viele gegen Onlinehasskommentare, die mich persönlich und rassistisch beleidigt und bedroht haben. ,Du gehörst nicht in unser Land! Verpiss dich!‘ ist nur eines von vielen Beispielen. Aber es bleibt nicht bei Beleidigungen. Im Bundestagswahlkampf 2021 habe ich auch einen körperlichen Angriff erlebt: Ein Mann ist an unseren Infostand gekommen, während ich von einem Kamerateam begleitet wurde. Er ist direkt auf das Kamerateam losgegangen und hat angefangen, sie zu schlagen. Ich bin dann dazwischengegangen. An Infoständen wird auch gern mal gefragt, ob ich mit meiner Nationalität überhaupt für den Deutschen Bundestag kandidieren dürfe. Das fühlt sich natürlich scheiße an. Ich will einfach nur Politik machen.

Zur Person

Kassem Taher Saleh

Kassem Taher Saleh ist seit 2021 Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen für den Wahlkreis 159 Dresden-Süd. Er ist Obmann im Ausschuss Wohnen, Stadtentwicklung, Bauwesen und Kommunen sowie stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Klima und Energie und im Ausschuss für Menschenrechte.

Die Macht des Bürgergespräches: Umstimmen ist möglich

Hier in Sachsen gibt es aber auch viele stabile Vereine und Organisationen, die sich hinter die Menschen stellen, die Angriffen ausgesetzt sind, ganz egal welcher Partei sie angehören. Und auch in meinem privaten Umfeld, in meinem Team, in meiner und anderen Parteien zeigen sich viele Menschen solidarisch. Das ist ein großer Halt für mich in solchen Momenten. Aufgeben werde ich nicht.

In Gesprächen merke ich sehr oft, dass mit falschen Fakten argumentiert wird. Und dann nennt man in Debattenrunden, Sprechstunden, Bürgergesprächen die richtigen Zahlen, erklärt, warum eine Entscheidung so getroffen wurde, und hört: ,Ja, okay, das ergibt Sinn.‘ Die Bürger:innen können eine andere politische Einstellung haben, das ist legitim. Aber wir alle sollten Dinge hinterfragen. Diese Erfahrung mache ich bestimmt einmal im Monat, wenn ich auf Instagram live gehe, im direkten Bürgerdialog oder auch beim Fußball.

Besonders in Erinnerung geblieben ist mir eine Begegnung während der Einführung des Gebäudeenergiegesetzes, des sogenannten Heizungsgesetzes. In die Bürgersprechstunde in Görlitz kam ein Bürger und sagte mir: ,Ich überlege, ob ich mich erhängen soll.‘ Er dachte, er verliert durch das Gesetz sein Haus, sein gesamtes Geld, sein Leben. Ich habe mich eine Stunde mit ihm hingesetzt und ihm das Gesetz erklärt – im Anschluss ist er erleichtert nach Hause gegangen.

„Wir Demokrat:innen stehen zusammen.“

Zitat vonKassem Taher Saleh
Zitat vonKassem Taher Saleh

Dass Jugendliche organisiert auf Wahlkampfhelfer:innen und einen Spitzenkandidaten losgehen wie im Mai in Dresden, das ist definitiv eine neue Dimension. Und das sind keine Nazis, das sind Jugendliche und Kinder. Da müssen wir als demokratische Parteien gemeinsam reflektieren: Was haben wir in den letzten Jahren falsch gemacht? Welche Rolle spielen Instagram und TikTok? Welche Rolle das soziale Umfeld?

Mit der parteiübergreifenden ,Striesener Erklärung‘ haben wir auf die Angriffe in Dresden reagiert. Wir wollten zeigen: Wir Demokrat:innen stehen zusammen. Und diesen Zusammenhalt müssen wir jetzt auch in der politischen Arbeit nutzen, um etwas zu verändern. Die Bürger:innen brauchen Halt – und diesen Halt muss die Politik ihnen bieten.

Wir brauchen eine klare Distanzierung von den Faschist:innen, von den Nazis, vor allem in der Sprache. Aus meiner Sicht ist die Taktik des Ignorierens gescheitert. Wir müssen jetzt erst recht aufstehen und für unsere Demokratie kämpfen.“

Thema

Politik und Partnerschaften

Mehr erfahren

Die Programme der Robert Bosch Stiftung für und mit politischen Entscheidungsträger:innen sollen jenseits des politischen Alltags einen Raum für einen parteiübergreifenden, vertrauensvollen und ergebnisorientierten Austausch schaffen.

Mehr erfahren

Dr. Markus Reichel: „Viele Menschen erwarten nicht die perfekte Lösung. Sie möchten, dass Politikerinnen und Politiker ihre Probleme anerkennen und sich bemühen, zu helfen“

„Ich denke, in Deutschland hat sich vor allem eine Skepsis breitgemacht, wie leistungsfähig unsere Demokratie aktuell ist. Das darf man nicht mit Demokratiefeindlichkeit verwechseln. In Sachsen zum Beispiel sind vor 35 Jahren viele Menschen für die friedliche Revolution auf die Straße gegangen – im Endeffekt ein klarer Akt gelebter Demokratie. Diese Menschen scheinen sich nun zu fragen: ,Wieso geht das Regieren denn nicht besser?‘ Diese Skepsis äußert sich im besten Falle in angeregten Diskussionen, die ich in Bürgerdialogen erlebe, wenn jemand zu mir in mein Wahlkreisbüro oder an einen Wahlkampfstand kommt. Und sie äußert sich in E-Mails und Schreiben, die wir bekommen. 
 

Zur Person

Dr. Markus Reichel

Dr. Markus Reichel ist seit November 2019 Kreisvorsitzender der CDU Dresden und war von 2011 bis 2021 Landesvorsitzender der Mittelstands- und Wirtschaftsunion der CDU Sachsen. Mit der Bundestagswahl 2021 zog er für den Wahlkreis 159 Dresden-Süd in den 20. Deutschen Bundestag ein.

Es braucht den Dialog mit der stillen Masse

Aber ich erlebe auch negative Reaktionen: Wenn ich die Menschen anspreche, heißt es auch mal: ,Lasst uns bloß in Ruhe, wir haben die Schnauze voll von euch, von der CDU, von allen.‘ Doch es gibt Menschen, die den Dialog suchen und bereit sind, zu diskutieren. Gespräche können dann oft weiterhelfen. Viele Menschen erwarten nicht die perfekte Lösung. Sie möchten, dass Politikerinnen und Politiker ihre Probleme anerkennen und sich bemühen, zu helfen.

Für mich persönlich haben die Onlinekommentare kein belastendes Ausmaß angenommen. Ich kenne aber Kolleginnen und Kollegen, bei denen das anders ist und sich ihre Büros eine Strategie für den Umgang mit Hasskommentaren überlegen müssen.

Doch auch ich erinnere mich an eine unangenehme Situation im Wahlkampf 2021. Da kam ein Mann auf uns zugerannt und rief: ,Ihr Mörder!‘ Wie geht man damit um? Ich habe mich entschieden, das Gespräch mit ihm zu suchen. Das war nicht einfach, aber am Ende hat er sich beruhigt.

Es gibt aber auch Beispiele für positive Begegnungen. Im Tür-zu-Tür-Wahlkampf wollte ich jemandem auf seinem Hof einen Flyer übergeben. Er entgegnete mir: ,Ihr habt wirklich gezeigt, dass es mit euch nicht geht. Ich habe mich schon entschieden.‘ Macht es da noch Sinn, den Dialog zu suchen? Auch hier suchte ich das Gespräch. Erfreulicherweise endete es damit, dass er sagte: ,Komm, gib mir die Flyer, ich verteile sie hier für dich an die Leute.‘

„Die größere Gefahr ist für mich die Gleichgültigkeit der stillen Mitte.“

Zitat vonDr. Markus Reichel
Zitat vonDr. Markus Reichel

Die viel größere Gefahr als die Aggressivität ist für mich die Gleichgültigkeit der stillen Mitte. Von den Menschen, die keine Zeit haben, sich politisch zu artikulieren, weil sie morgens aufstehen, arbeiten, die Kinder betreuen. Die kommen nicht an den Stand und schreien uns an. Deswegen müssen wir mehr mit diesen ruhigen 80 Prozent reden als über die 20 Prozent, die laut schreien. Diese 20 Prozent haben null Chance, wenn die Mitte stark ist.

Die tätlichen Angriffe der vergangenen Wochen sind absolut zu verurteilen. Das hätte jedem engagierten Menschen in Deutschland passieren können! Wir müssen in unserer Gesellschaft endlich wieder eine starke und sichere Mitte sein. Angegriffen und verletzt wurden nicht nur Personen, sondern die Art und Weise, wie wir Demokratie leben. Mit der ,Striesener Erklärung‘ haben wir schnell und überparteilich ein klares Zeichen gegen Gewalt in Deutschland gesendet.“

Fünf Personen ziehen fest an einem langen Seil
Das Dossier zum Thema

Sozialer Zusammenhalt

Zum Dossier

Wenn die Dialogbereitschaft endet und Meinungsverschiedenheiten in Hass übergehen, betrifft das uns alle: Es gefährdet das demokratische Zusammenleben. Was können wir dem entgegensetzen? Ermutigende Ansätze gibt es aus all unseren Fördergebieten – und um diese Ansätze geht es in unserem Dossier.

Zum Dossier
Das könnte Sie auch interessieren
RBA-Fellows sprechen auf der Dachterrasse der Robert Bosch Stiftung Berlin miteinander
10 Jahre Robert Bosch Academy

Ein globales Netzwerk zur Lösung drängender internationaler Herausforderungen

Vor zehn Jahren – am 20. Juni 2014 - wurde die Robert Bosch Academy gegründet. Wir haben zehn...
zwei Frauen unterhalten sich auf einer kleinen Bühne
Dialogkultur

Kontroverse Meinungen aushalten – der demoSlam macht es vor

Der demoSlam fördert das konstruktive Streiten und das Aushalten von Andersartigkeit in der Demokratie.
Teilnehmerin spricht im Plenum beim Bürgerrat Ernährung im Wandel
Bürgerrat „Ernährung im Wandel“

Jetzt redet sogar das Volk mit in der Demokratie

Ein Plädoyer für mehr dialogische Bürgerbeteiligung von Gordian Haas anlässlich des ersten Bürgerrats des Bundestags.
Menschen auf einer Demonstration, ein Kind hält ein Pappschild mit Herzen drauf
Meinungsbeitrag

Demokratie — ein Muskel, den wir trainieren müssen

Hunderttausende gehen in diesen Wochen gegen den Rechtsruck auf die Straße. Und es gibt noch mehr Wege, die Demokratie zu stärken.