Ist Essen Privatsache? Oder braucht es angesichts der Auswirkungen unserer Ernährung auf Wirtschaft und Umwelt einen politischen Rahmen? Wie viel Mitsprache wünschen Menschen sich bei der Gestaltung unseres Ernährungssystems? Wir haben nachgefragt.
Was gibt es heute eigentlich zum Abendessen? Was auf den ersten Blick klingt wie das täglich grüßende Murmeltier, zeigt in Wahrheit: Die eigene Ernährung ist für die meisten Menschen dauerpräsent – mal als Teil der eigenen Persönlichkeit, mal als Gegenstand der öffentlichen Diskussion. Denn was wir essen hat nicht nur Auswirkungen auf jeden Einzelnen, sondern beeinflusst auch wirtschaftliche Strukturen, gesellschaftliche Veränderungen und die Umwelt.
Ernährung ist für die meisten weit mehr als eine reine Pflichtaufgabe. In einer Studie, die die Robert Bosch Stiftung gemeinsam mit More in Common durchgeführt hat, zeigt sich: Menschen sehen ihre Ernährung als sensibles Thema, das eng mit ihrer Selbstwahrnehmung verknüpft ist. Wer sich gesund ernährt, führt ein achtsames Leben. Wer die Rezepte der Großmutter nachkocht, ist eng mit seiner Herkunft und Kultur verbunden. Wer sonntags gerne Kuchen nascht, lässt es sich gutgehen und kann auch mal genießen. Diese unmittelbare Verbindung zwischen Ernährung und Identität bestätigen die Studienergebnisse: Die Mehrheit der Befragten ist vor allem dann mit der eigenen Ernährung zufrieden, wenn es um direkt erlebbare Kategorien wie „Gesundheit“ oder „Geschmack“ geht.
Gleichzeitig treibt viele Menschen eine tiefe Verunsicherung um: Rund die Hälfte aller Befragten findet, dass die eigene Ernährung verbessert werden könnte und gibt zu, sie im täglichen Leben immer wieder als Herausforderung wahrzunehmen. Für manche sind es die hohen Preise, die gesündere Lebensmittel unerreichbar machen. Andere hadern damit, für eine gesunde Lebensweise ständig den inneren Schweinehund überwinden zu müssen und immer wieder mit dem eigenen Scheitern konfrontiert zu werden.
"Diese Komplexität ist bezeichnend: Wenn es darum geht, was auf ihren Teller kommt, sind Menschen verletzlich und emotional, haben Angst vor Abwertung und verlangen gleichzeitig nach Autonomie."
Diese teils widersprüchliche Gefühlslage prägt auch die öffentliche Debatte. Fragt man Personen, wie sie den Diskurs über Ernährung wahrnehmen, fällt eines auf: Auch hier stehen komplexe Gefühle und Ängste im Vordergrund. Gerade gegenüber Gruppen, die ein bestimmtes Essverhalten an den Tag legen, herrschen starke Gefühle vor. Ganze 74 Prozent der Befragten stehen negativ zu Menschen, die sich hauptsächlich von Fast Food ernähren. Auch Veganerinnen und Veganer sind in hohem Maß von negativen Assoziationen betroffen.
“Wir dürfen nicht den Fehler machen, Gruppen gegeneinander auszuspielen: Veganer:innen gegen Fleischliebhaber und insbesondere nicht Verbraucher:innen gegen Landwirt:innen. Mit diesem Modus kommen wir in der Debatte nicht weiter - die Diskussion muss respektvoll und wertschätzend geführt werden und unterschiedliche Erfahrungen und Perspektiven anerkennen", erklärt Doreen Buchheiser, Senior Projektmanagerin bei der Robert Bosch Stiftung.
Die Unterstützung für Veränderungen in Sachen Ernährung ist groß. Menschen wünschen sich eine nachvollziehbare und maßvolle Politik, die ihre Prioritäten in den Vordergrund stellt, sich für die Interessen der Bevölkerung stark macht und von der Lebensmittelindustrie unabhängig ist. Gleichzeitig wollen sie in ihrer Freiheit nicht eingeschränkt werden.
Zudem ist das Misstrauen gegenüber jenen, die die öffentliche Debatte stark mitgestalten, wie z.B. Poltiker:innen, Medien, Influencer und Lebensmittelindustrie hoch. Am ehesten vertraut man Informationen, die direkt aus dem privaten Umfeld stammen. Hier wird deutlich, wie viel Unsicherheit und Angst vor Abwertung die öffentliche Diskussion prägen – und das hat Folgen: „Die Debatte wird häufig entweder vermieden oder hoch emotional aufgeladen“, ordnet David Melches, Associate bei More in Common und einer der beiden Autoren der Studie, ein. „Die Ergebnisse zeigen, dass Menschen ihren eigenen Erwartungen oft nicht gerecht werden können und – teils begründete – Angst vor Abwertung haben. Daher wollen sie lieber im privaten Kreis über ihre Ernährung sprechen und vermeiden die gesellschaftliche Debatte."
Das heißt nicht, dass Menschen ihre Ernährung für reine Privatsache halten. Im Gegenteil: 64 Prozent der Befragten sehen in Sachen Ernährung in Deutschland deutlichen Handlungsbedarf. Gleichzeitig nehmen 58 Prozent die aktuelle Ernährungspolitik als ungerecht wahr. Sie wünschen sich eine verantwortungsvolle Politik, die Rahmenbedingungen für eine sinnvolle Ernährung schafft. Am besten soll sie Preisanstiege (38 Prozent), Lebensmittelverschwendung (36 Prozent) und ungesunde Produkte für Kinder (36 Prozent) verhindern. Doch erneut folgt auf die Erkenntnis ein Widerspruch: Obwohl sie nach einer politischen Veränderung verlangt, misstraut die Mehrheit der Befragten der Politik und ist vorsichtig, ihr Zugriffsrechte zuzugestehen – gerade in einem so persönlichen Bereich des eigenen Lebens. Eine Zwickmühle für die Ernährungspolitik?
“Wir müssen davon wegkommen, die Verantwortung nur zu individualisieren, das Thema ist komplexer. Es ist Aufgabe der Politik, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass sie den Menschen besseren Zugang zu gesunden und nachhaltigen Lebensmitteln ermöglichen und den Entscheidungsspielraum erweitert. Gesunde Ernährung sollte kein Luxus sein.”
In der Wahrnehmung der Befragten übernehmen Verbraucher:innen und Landwirt:innen bereits große Verantwortung, während die Politik als relativ wirkungslos wahrgenommen wird. Gerade deshalb sind die Chancen, Bürger:innen bei diesem Thema aktiv zu beteiligen, hoch.
Wie wichtig es den Menschen ist, selbst ein aktiver Teil politischer Veränderungen zu sein und dabei angemessen repräsentiert zu werden, unterstreichen die Studienergebnisse: 75 Prozent der Befragten wünschen sich, zum Beispiel durch Volksentscheide selbst über neue Weichenstellungen für die Ernährungspolitik abstimmen zu können. 55 Prozent würden gerne in einem Gremium wie den Bürgerräten mitberaten.
Kritisch bewertet Buchheiser in diesem Zusammenhang, wie die Politik mit den Ergebnissen groß angelegter Bürgerbeteiligungen umgeht: „Beteiligungsprozesse wie der Bürgerrat "Ernährung im Wandel" des Deutschen Bundestags sind ein wichtiger Schritt in Richtung partizipativere Politikgestaltung, aber die Empfehlungen von Bürger:innen müssen anschließend auch in die Umsetzung gelangen.“
Für eine positive gesellschaftliche Entwicklung ist die Bevölkerung bereit, einiges in Kauf zu nehmen – selbst, wenn es für sie selbst mit Nachteilen verbunden wäre. Über die Hälfte der Befragten würde höhere Preise akzeptieren, wenn dafür Landwirtinnen und Landwirte gerecht bezahlt oder der Tierschutz erhöht würde. 47 Prozent würden zudem tiefer in die Tasche greifen, wenn damit höhere Standards in Sachen Gesundheit erreicht werden könnten. 40 Prozent der Befragten stehen Veränderungen offen gegenüber, wenn damit die Auswirkungen unserer Ernährung auf das Klima verbessert werden. Dieses Gestaltungspotenzial sollte die Politik nutzen.
"Als Stiftung können wir hier Impulse setzen und wichtige zivilgesellschaftliche Akteure wie etwa das Netzwerk der Ernährungsräte stärken", erklärt Buchheiser. Aktuell fördert die Robert Bosch Stiftung im Rahmen des Programms "Zukunft aufgetischt!" zehn Projekte und Initiativen, die Bürgerbeteiligung und Dialogkultur im ländlichen Raum zum Thema Ernährung etablieren. Damit wird nicht zuletzt auch das Vertrauen der Bürger:innen in die Machbarkeit von Veränderungen gestärkt.