Viele Bürger:innen wünschen sich mehr Möglichkeiten, sich in der Demokratie engagieren zu können. Andere sehen dies hingegen skeptisch. Wir haben zwei Expert:innen gefragt, welche Chancen und Risiken Bürgerbeteiligungen bieten.
Im Juli wurden die Teilnehmer:innen für den ersten Bürgerrat des Bundestages ausgelost. Wie ordnen Sie diesen Schritt in Richtung Bürgerbeteiligung ein?
Brigitte Geißel: Ich befürworte Bürgerbeteiligung auf nationaler Ebene und freue mich natürlich, dass der Bundestag sich dieser demokratischen Innovation geöffnet hat. Allerdings sehe ich auch die Gefahr, dass in so einen Bürgerrat Hoffnungen gesetzt werden, die nicht erfüllt werden können. Er wird nicht die Polarisierung in der Gesellschaft auflösen oder dazu führen, dass gleich bessere Gesetze verabschiedet werden. Er kann den Gesetzgeber:innen jedoch zusätzliche Informationen liefern.
Gordian Haas: Ich freue mich ebenfalls sehr, dass das Thema Bürgerbeteiligung nun auf der obersten Ebene angekommen ist. Bürgerräte hat es auf der kommunalen und der Landesebene bereits gegeben, doch jetzt wurden sie zum ersten Mal von unserem wichtigsten politischen Organ beauftragt. Das ist großartig. Gleichzeitig ist es wichtig, zu betonen, dass ein Bürgerrat keine Alternative zur repräsentativen Demokratie sein soll, sondern eine Ergänzung. So wie sich der Bundestag ja auch von Expert:innen beraten lässt, gibt es jetzt eben die Möglichkeit für Bürger:innen, ihre Meinung einzubringen.
Geißel: Dabei gehen die Gespräche in einem Bürgerrat über eine reine Stammtischdiskussion hinaus. Es werden Expert:innen eingeladen, die verschiedene Perspektiven vertreten. Die Diskussionen finden moderiert in Kleingruppen statt, damit wirklich alle Stimmen gehört werden.
Haas: So ein Bürgerrat ist eine sehr stark strukturierte Form der Bürgerbeteiligung und wird „von oben“ angestoßen. Bürgerbeteiligung kann aber auch in Form einer Grassroots-Bewegung entstehen: lokale Bürger:innen, die sich zusammenschließen und eine Petition starten oder Demonstrationen organisieren. Auch Bürgerforen und Zukunftswerkstätten sind Varianten der Bürgerbeteiligung.
Geißel: Die Forschung diskutiert aktuell intensiv, welche Chancen diese verschiedenen Formen der Bürgerbeteiligung für unsere Demokratie bieten. Zum Beispiel sollen politische Entscheidungen besser werden, weil sie näher an den Bedürfnissen der Bürger:innen sind. Das kann gegen Politik- oder eher Parteienverdrossenheit helfen. Zudem erhofft man sich eine Kompetenzentwicklung und Mobilisierung in der Bürgerschaft. Wir wissen aus Ländern mit Volksentscheiden, dass die Menschen zu diesen Themen besser informiert sind. Bürgerbeteiligung kann auch dazu führen, dass die Politik inklusiver wird, weil wirklich alle Bevölkerungsgruppen gehört werden – und nicht nur die Stammwählerschaften der jeweiligen Parteien. Nicht zuletzt soll sie auch die Transparenz von Gesetzgebungsverfahren erhöhen. All das sind ebenfalls die Kriterien, nach denen die Effektivität von verschiedenen Formen evaluiert werden kann.
Haas: Bürger:innen, die an entsprechenden Verfahren beteiligt waren, entwickeln außerdem oft eine größere Dialogbereitschaft und mehr Verständnis für die Situation der anderen. Es ist für eine demokratische Gesellschaft extrem wichtig, dass es so ein Gemeinschaftsgefühl gibt. Das hat in den letzten Jahren sehr gelitten.
Geißel: Und zudem kann Bürgerbeteiligung die politische Zufriedenheit steigern, wie die Schweiz zeigt. Dort ist die Unterstützung des politischen Systems unglaublich groß, was auch an der Direktdemokratie liegt. Doch es kommt sehr darauf an, wie Bürgerbeteiligung umgesetzt wird. Sie kann auch zur Polarisierung beitragen. Es gibt zum Beispiel das Phänomen der Selbstrekrutierung: Wenn Bürgerbeteiligungen nicht gezielt repräsentativ besetzt werden, finden sich oft Menschen zusammen, die relativ homogen sind, mit eher höherem Einkommen und Bildungsstatus. Echte Bürgerbeteiligung kostet Zeit und Ressourcen, man muss sie gut planen.
Haas: Da stimme ich zu. Für den Bürgerrat Ernährung wurden beispielsweise 20.000 Menschen angeschrieben, um letztlich 160 Teilnehmer:innen zu gewinnen, die die Zusammensetzung der deutschen Bevölkerung repräsentieren. Das losbasierte Verfahren dahinter ist im Detail relativ kompliziert. Grundsätzlich gibt es eine Reihe von Erfolgsfaktoren für Bürgerbeteiligung. Der wichtigste: Die Institution, die sie anstößt, muss ein aufrichtiges Interesse am Ergebnis haben, sonst kann man auch Vertrauen zerstören. Bürgerbeteiligung muss dazu frühzeitig in einem politischen Prozess eingesetzt werden. Außerdem ist natürlich nicht jedes Thema für Bürgerbeteiligung gleichermaßen geeignet.
Geißel: Es darf auch kein “Particitainment” sein, wo man so tut, als gäbe es eine Beteiligung, die Leute haben irgendwie Spaß, aber am Ende steckt keine echte Gestaltungsmöglichkeit dahinter. Das ist sonst Augenwischerei.
Haas: Dieser Punkt liegt uns bei der Robert Bosch Stiftung sehr am Herzen: echte Partizipation an der Demokratie zu fördern, und zwar für alle. Mit den verschiedenen Formen der Bürgerbeteiligung lassen sich auch Bürger:innen erreichen, die sich bisher nicht so lautstark in den demokratischen Prozess eingebracht haben. Eine relativ große Gruppe, die die Demokratie nicht aktiv befürwortet, aber auch nicht dagegen ist. Genau diese Gruppe versuchen wir als aktive Unterstützer:innen der Demokratie zu gewinnen. Dafür müssen wir Hürden abbauen. Wenn Bürger:innen sich politisch engagieren, machen sie das in ihrer Freizeit. Wir müssen ihnen überhaupt erst einmal die Möglichkeit geben, sich zu beteiligen, zum Beispiel durch Kinderbetreuung, Aufwandsentschädigung, Technikschulungen und dergleichen. Nicht nur sollte jede:r prinzipiell die Möglichkeit haben, sich zu beteiligen – es muss auch in der jeweiligen Lebensrealität darstellbar sein.
Geißel: All diese Faktoren können dazu beitragen, dass Bürgerbeteiligung in fünf oder zehn Jahren eine größere Rolle spielt …
Haas: Es ist meine Hoffnung und Erwartung, dass es auf allen Ebenen zu einer zunehmenden Institutionalisierung von Bürgerbeteiligung kommen wird. Ich erwarte zudem, dass es eine stärkere Verbindung von direkter und deliberativer Demokratie geben wird. Wenn eine Gruppe von Menschen eine komplexe Entscheidung zu treffen hat, dann ist es wichtig, dass sie das erst mal miteinander besprechen und zum Schluss entscheiden. Genau das passiert im Parlament, aber wir brauchen die Verknüpfung auch bei Bürgerbeteiligungen.
Geißel: Diese Verzahnung liegt mir auch sehr am Herzen. Meine Vision ist eine Demokratie, in der direkte und deliberative Verfahren eng mit unseren repräsentativen Institutionen verknüpft sind. Politische Themen werden intensiv in der Bevölkerung diskutiert und in Teilen auch entschieden. Die Bevölkerung entscheidet auch selbst, wie sie beteiligt wird. Zudem gibt es Monitoringprozesse, die überprüfen, ob diese Verfahren funktionieren.
Haas: Genau, letztlich müssen die Erfolge von Bürgerbeteiligung diese Verfahren selbst legitimieren.