Nach drei Jahren Krieg gibt es Hunderttausende Ukrainer:innen, die aus dem Krieg heimgekehrt sind – oft an Leib und Seele versehrt. Das Programm VILNO hilft ihnen, wieder im zivilen Leben Fuß zu fassen. Drei Veteran:innen berichten von ihren Erfahrungen und erzählen, wie es ihnen heute geht.
Kriegsveteran:innen wieder in den Alltag integrieren: Das ist zu einer der größten Herausforderungen für die Ukraine geworden. Bereits heute gibt es im Land rund 1,4 Millionen Veteran:innen – und die Abwehr des russischen Angriffskrieges wird diese Zahl voraussichtlich auf 4 bis 5 Millionen anwachsen lassen. Diese Zahl nannte die Vorsitzende des Ausschusses für humanitäre Angelegenheiten des ukrainischen Parlaments Ende 2024.
Nach der Rückkehr von der Front kämpfen viele Veteran:innen mit den erlittenen physischen und psychischen Verletzungen und mit der Herausforderung, sich in einer durch den Krieg veränderten Gesellschaft zurechtzufinden. Da die staatliche Unterstützung für Kriegsveteran:innen begrenzt ist, bieten inzwischen zivilgesellschaftliche Initiativen wie Insha Osvita ihre Hilfe an.
Das VILNO-Programm wurde von der ukrainischen Nichtregierungsorganisation Insha Osvita gegründet und wird von der Robert Bosch Stiftung unterstützt. Es hilft Künstler:innen, Lehrer:innen und Manager:innen aus dem Kultur- und Bildungsbereich, einen Weg zurück in die Arbeitswelt zu finden. Das Programm soll als Modell für die Wiedereingliederung von Kriegsveteran:innen aus anderen Berufsgruppen dienen.
Wir haben mit drei Veteran:innen über ihre Kriegserfahrungen gesprochen, über ihren Weg zurück in den Alltag und die Bedeutung des VILNO-Programms: mit einem ehemaligen Schauspieler, der sich heute für die Barrierefreiheit für Behinderte einsetzt; mit dem Mitbegründer des VILNO-Programms, der Künstler und selbst Veteran ist; und mit einer Veteranin, die vor ihrem Militärdienst in der Kreativbranche gearbeitet und danach eine Buchhandlung eröffnet hat.
„Vor dem Krieg war ich Schauspieler und habe Regie studiert. Wahrscheinlich waren es gerade meine künstlerischen Interessen, die mich schließlich dazu gebracht haben, mich zum Militärdienst zu melden: Ich lernte immer mehr über die Kultur und Geschichte der Ukraine und begann zu verstehen, was hier alles auf dem Spiel steht. Ich dachte: Wenn ich das Land nicht verteidige, wer wird es dann machen?
Ich habe mich im April 2022 als Freiwilliger gemeldet. Zuerst wurde ich zu einer Einheit nach Tschernihiw geschickt. Später wurde ich als Drohnenpilot nach Asow versetzt.
Im März 2024 wurde ich bei einem Kampfeinsatz in der Nähe des Serebryansky Waldes verwundet. Am Abend zuvor hatte ich meine Arbeit beendet und war ins Bett gegangen. Plötzlich gab es eine Explosion, ich hörte Beton bersten und sah, wie eine Betonplatte auf uns fiel. Einige meiner Kameraden wurden ganz begraben, ich nur zur Hälfte. Meine Beine waren an drei Stellen gebrochen. Vier Stunden lang arbeiteten die anderen Männer, um mich aus den Trümmern zu befreien. Sie gruben mich mit bloßen Händen aus. Alle 20 Minuten gab es um mich herum Mörserfeuer. Ich hatte große Schmerzen, ich schrie die ganze Zeit. Dann warteten wir zwei Stunden auf den Abtransport. Am Ende mussten mir beide Oberschenkel oberhalb des Knies amputiert werden.
Durch die Verletzung bin ich nicht mehr so beweglich. Deshalb ist es schwierig, an eine Rückkehr zur Schauspielerei zu denken. Schließlich ist das eine Tätigkeit, bei der man alle Körperteile einsetzen, bei der man voll funktionsfähig sein muss. Aber wenn ich die Chance hätte, an einem interessanten Projekt teilzunehmen, würde ich das vielleicht tun.
Als Verwundeter habe ich viel Zeit in Krankenhäusern verbracht. Wenn man täglich Menschen mit Verletzungen und Prothesen sieht und ihre Bewegungen beobachtet, versteht man, wie sich die Welt ändern muss. Nicht unsere Verletzungen machen uns zu Behinderten, sondern andere Menschen, die unsere Bedürfnisse nicht berücksichtigen. Meine Frau und ich arbeiten an einem Video Guide über Prothesen und körperliche Rehabilitation für Kriegsversehrte. Als ich noch Beine hatte, habe ich vieles übersehen. Mit einer Behinderung sehe ich alles aus einem anderen Blickwinkel. Als ich mein Stipendium von VILNO erhielt, beschloss ich, mich auf diese Verschiebung zu konzentrieren. Ich glaube, dass ein Leitfaden darüber für die Ukraine sehr wichtig sein wird.
Mykola hält ein Schild mit der Aufschrift "Meine Hölle dauerte 4 Jahre. Ihre dauert noch immer an."
Ich möchte unbedingt mehr von der Ukraine sehen. In vielen Teile des Landes war ich noch nicht. Während meines Militärdienstes hatte ich die großartige Gelegenheit, die Donbass-Region zu sehen. Als Drohnenpilot konnte ich ihre Schönheit von oben bewundern. Es ist eine Schande, dass all diese Gebiete zerstört werden.
Ich träume davon, ein Kind zu haben und mit meiner Frau ans Meer zu fahren. Ich freue mich jeden Tag, wenn ich sehe, wie die jungen Leute im Rehabilitationszentrum allmählich mit ihren Prothesen zurechtkommen, wie sie anfangen, damit zu gehen, manche von ihnen sogar zu laufen. Ich werde das nie können, weil ich zum Laufen ein ganz anderes Kunstglied bräuchte.
Es ist naiv, vom Sieg in diesem Krieg zu reden und einfach zu hoffen, dass er eines Tages kommt. Es reicht nicht, daran zu glauben, man muss auch etwas dafür tun. Den Sieg erringt man, indem man etwas tut. Genau daran müssen wir uns halten, um zu gewinnen.“
„Ich war in der 95. Luftlandebrigade Polesien und erlitt im Juli 2023 eine schwere Schrapnellwunde, die meinen Bewegungsapparat beeinträchtigte. Ich wurde in die Stadt Dnipro evakuiert, wo die Granatsplitter, die meine Wirbelsäule beschädigt hatten, entfernt wurden, danach kam ich zur Rehabilitation nach Kiew. Im Frühjahr 2024 wurde ich für den Wehrdienst untauglich erklärt und habe nun eine anerkannte Behinderung.
Der Krieg, den ich erlebt habe, ist das, was sich die meisten Zivilist:innen darunter vorstellen: Explosionen, Blut, Schüsse, Schreie, Schützengräben, Gefahr, Angst, Kettenfahrzeuge, Wälder, Felder, der Feind in Sichtweite, Feuer eröffnen, Drohnen, Hitze, Regen, Schlafentzug, Wasser- und Nahrungsmangel, Adrenalin, dumme Witze, Artillerie- und Mörserangriffe, der Verlust von Kameraden, der Tod, das ständige Rauchen, die Freude, unsere Stellungen zu verlassen. Das Leben kann wirklich jeden Moment zu Ende sein.
Was meinem Militärdienst und meinen Kampferfahrungen folgte, waren vor allem Schuldgefühle – für den Verlust meiner Kameraden und für mein Überleben. Ich weiß, ich habe mein Bestes gegeben, aber trotzdem sind Menschen gestorben. Auch wenn man sein Bestes gibt, kann es anders kommen als erhofft.
Nach meiner Verlegung nach Kiew habe ich die Kunst aus meinem Kopf verbannt. Ich war überwältigt von der Freude, meine Familie um mich zu haben, von dem Wunsch, meinen Nachbarn zu helfen, von der Fülle und Aufrichtigkeit der Gespräche mit den Menschen, die ich traf.
Dann kam das Angebot, das VILNO-Programm mitzugestalten. Ich zögerte zunächst, obwohl ich Wert, Notwendigkeit und Aktualität der Initiative verstand. Ich fühlte mich ein wenig einsam, aber ich wusste, dass ich nach Menschen mit ähnlichen Erfahrungen suchen musste. Ich hatte Angst, dass der Austausch neue Traumata auslösen und die Schuldgefühle eine neue Dimension annehmen könnten. Dem wollte ich mich eigentlich noch nicht stellen, aber ich stimmte zu. Ich wusste, dass es das Richtige war, auch wenn es mir Angst machte.
Das Gemeinschaftsgefühl war für mich außerordentlich wichtig. Ich glaube, dass die bloße Anwesenheit einer Person sehr unterschätzt wird. Man muss füreinander da sein. Präsenz schafft Vertrauen, nährt Hoffnung und fördert Verständnis. Wenn ich weiß, dass du da bist, dass du mit mir erlebst, was hier und jetzt geschieht, wenn wir mit unseren Augen dasselbe sehen und mit unseren Ohren dasselbe hören, dann sind wir wirklich wir.“
„Im Frühjahr 2022 schien es mir unausweichlich, der Armee auf jede erdenkliche Weise zu helfen. Wie die meisten Ukrainer:innen zu dieser Zeit leistete ich viel Freiwilligenarbeit. Aber das schien bei Weitem nicht genug, und so entschied ich mich im April 2022, der Armee beizutreten. Ich diente ein Jahr und sieben Monate.
Der Militärdienst hat mir ein Zugehörigkeitsgefühl gegeben, mich Disziplin gelehrt und mir gezeigt, dass ich mit Situationen umgehen kann, die ich mir nie zugetraut hätte. Beim Militär zu sein bedeutet, keine Wahl zu haben: Man tut, was einem gesagt wird. Sobald man in den Alltag zurückkehrt, fängt man an, sein Privatleben, seine Freizeit und seinen persönlichen Freiraum zu schätzen – alles Dinge, die in der Armee eingeschränkt waren.
Es gibt meiner Meinung nach zwei Arten von Militärangehörigen: diejenigen, die gerne über ihre Erfahrungen im Krieg sprechen, und diejenigen, die es nicht gerne tun. Ich gehöre zu letzteren.
Manche Soldaten suchen zurück im zivilen Leben etwas Ähnliches wie in der Armee. Ich dagegen wollte meinen Militärdienst nicht mit in meinen Alltag nehmen. Mit Hilfe eines Psychotherapeuten habe ich stattdessen meinen alten Traum, eine Buchhandlung zu eröffnen, wiederentdeckt und daran gearbeitet, ihn zu verwirklichen. Das war nicht einfach. Aber auch meine Erfahrungen beim Militär haben mir die Zuversicht gegeben, dass nichts unmöglich ist – man muss nur einen guten Plan haben.
Während eines Stromausfalls muss Taschenlampenlicht im Buchladen ausreichen.
Etwa sechs Monate nach der Eröffnung erzählte mir ein Freund, ebenfalls ein Veteran, vom VILNO-Programm von Insha Osvita. Zuerst wollte ich mich nicht bewerben: Ich dachte, es wäre die Hölle, die nötigen Papiere zusammenzubekommen. Aber es stellte sich heraus, dass ich nur einen Fragebogen ausfüllen musste. Also habe ich es dann doch gemacht.
Später hatten wir ein Zoom-Treffen mit anderen Leuten, die auch ein VILNO-Stipendium bekommen hatten. Ich dachte, dass mein Stipendium ausschließlich für mein Buchladen-Projekt gedacht war. Deshalb war es für mich wichtig, die Verantwortlichen davon zu überzeugen. Sie sagten, ich könne das Geld ausgeben, wie ich es für richtig hielte. Das ist eine sehr coole Sache: In gewisser Weise ehrt das meinen militärischen Einsatz und zeigt, dass das, was ich getan habe, geschätzt wird. So etwas erlebt man im zivilen Leben nicht oft.“
Seit Frühjahr 2022 unterstützt die Robert Bosch Stiftung die Ukraine. Nach anfänglichen Soforthilfeprogrammen legen wir den Schwerpunkt inzwischen auf die nachhaltige Wirkung geförderter Projekte. Erfahren Sie hier, welche Programme wir in der Ukraine und angrenzenden europäischen Ländern wir fördern.