Die Initiative Restart Agency arbeitet an einem Plan, um zerstörte Infrastruktur nach nachhaltigen Grundsätzen wieder aufzubauen. Gleichzeitig will man noch während des Krieges Kommunen helfen, auf die Beine zu kommen. Eine Gemeinde im Süden des Landes dient ihnen als Labor – und als Blaupause.
Seit dem 24. Februar 2022 wehrt sich die Ukraine mit allen Mitteln gegen den russischen Angriffskrieg, der weite Teile des Landes mit Tod und Zerstörung überzieht. Unzählige Ukrainerinnen und Ukrainer stellen seit dem Beginn des Krieges ein beeindruckendes Maß an Resilienz unter Beweis. Kaputte Kraftwerke, gesprengte Dämme, zerstörte Häuser: Für fast jede Herausforderung finden die Menschen im Land mit Improvisationstalent und harter Arbeit eine Lösung. Einer dieser resilienten Ukrainer ist Oleksandr Shevchenko, ein junger, ernster Mann im Hoodie. Oleksandrs Augen verraten, dass er mehr gesehen und erlebt als seine Altersgenossen in friedlichen Regionen der Welt. „Für mich wird das Leben nie mehr sein wie zuvor“, sagt er.
Wie unzählige andere wollte sich Oleksandr Shevchenko im Frühjahr 2022 nicht dem scheinbar unausweichlichen Schicksal der Niederlage ergeben. „Im Krieg geht es darum, Verantwortung zu übernehmen. Wir müssen den unbedingten Willen haben, diesen Konflikt zu gewinnen“, sagt er. Während also die Soldatinnen und Soldaten den russischen Vormarsch zuerst stoppten und dann zurückschlugen, schmiedete Oleksandr Pläne. Pläne, wie man die Ukraine nach dem Ende des Kriegs wieder aufbauen kann. Moderner. Grüner. Nachhaltiger. Und: noch resilienter.
Im Frühjahr 2022 gründete Oleksandr Shevchenko mit vier Gleichgesinnten die Initiative Restart. „Bis 2014 erlebte unser Land eine der längsten Phasen des Friedens überhaupt. Ich selbst war im Bereich der urbanen Entwicklung tätig, habe dabei stets datenbasiert gearbeitet“, sagt er. Zu den beruflichen Stationen des Raumplaners zählten Projekte der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und die United States Agency for International Development (UDAID). Dann stellte der Krieg seine Welt auf den Kopf.
Schon bald nach der Gründung gehörten zum Team von Restart Stadtplaner, Architekten, Projektmanager. Sie alle stellten sich ähnliche Fragen: Wie dokumentieren wir das Ausmaß der Schäden? Wie können wir für Menschen, die das Dach über ihrem Kopf verloren haben, zeitnah eine neue Bleibe schaffen? Lassen sich die vielen Trümmer im Land für den Wiederaufbau nutzen? Und: Wie können Städte und Gemeinden in der Ukraine für eine Zukunft im Frieden gestaltet werden?
Zunächst erstellte das Team ein strategisches Konzept. Demnach soll die „Wiedergewinnung“ der eigenen Städte und Gemeinden in einem neunstufigen Prozess ablaufen: Am Anfang steht dabei die Schadensanalyse, am Ende der Wiederaufbau. In diese erste Phase der Arbeit fiel auch die Etablierung von Kommunikationskanälen in ukrainische Behörden und Verwaltungen, der Aufbau einer Webseite und die Vorbereitung von Präsentationen, um bei öffentlichen Auftritten Mittel für die eigene Arbeit einzuwerben. Bereits in dieser frühen Phase unterstützte die Robert Bosch Stiftung das Projekt.
Wichtig war es den Mitgliedern von Restart von Beginn an, die Gemeinden im Land zügig resilienter gegenüber den Folgen russischer Aggression zu machen und den Exodus der Bevölkerung zu stoppen. Deshalb sind Schutzräume und temporäre Unterkünfte Teil der Pläne von Restart. Beim langfristigen Wiederaufbau dagegen stehen der Faktor Nachhaltigkeit und die Anpassung von urbanen Strukturen an den Klimawandel im Fokus. „Unsere Herausforderung lautet: Der Wiederaufbau muss sowohl schnell genug als auch grün genug erfolgen“, sagt Oleksandr.
Um das Ausmaß der Zerstörung im Land erfassen zu können, stützen sich Oleksandr Shevchenko und sein Team auf digitale Angebote des ukrainischen Staates und von NGOs, die Bürgerinnen und Bürger nutzen können, um Beschädigungen oder die Zerstörung ihres Eigentums zu melden. Ebenfalls als wertvoll erweisen sich fotografische Satellitendaten und eine sechsstufige Skala, mit deren Hilfe in Japan die Gebäudeschäden durch Naturkatastrophen kategorisiert werden.
Die Kombination dieser Verfahren liefert die Basis für einen detaillierten landesweiten Schadensbericht. Später soll es damit auch möglich sein, die Ressourcen für die Beräumung und Wiederverwertung von Trümmern zu ermitteln. „Unser Tool zur Datensammlung ist mittlerweile komplett etabliert“, sagt Oleksandr Shevchenko. „Außerdem stehen wir kurz davor, eine überarbeitete Webseite online zu stellen.“
Als dritten strategischen Schritt definierte Restart die Implementierung der eigenen Strategie vor Ort, unter Einbeziehung der relevanten Stakeholder und Entscheidungsträger. Dies beschreibt Oleksandr als echte Herausforderung. „Wir arbeiten an der Schnittstelle zwischen lokalen und regionalen Verwaltungen, dem Ministerium für die Wiedereingliederung der vorübergehend besetzten Gebiete der Ukraine und verschiedener internationaler Organisationen“, erläutert Oleksandr Shevchenko. Hier gelte es, sichtbar zu sein, sich gut zu vernetzen und an richtiger Stelle die Kräfte zu bündeln, um möglichst effektiv und effizient zu helfen.
Als Showcase entwickelte das interdisziplinäre Team von Restart zunächst einen Resilienz- und Wiederaufbauplan für Chernihiv im Norden der Ukraine. Doch die theoretischen Aufbauplanungen für eine Großstadt erwiesen sich in der Praxis als nicht durchführbar. In bester Start-up-Manier entschieden sich Oleksandr und seine Mitstreiter deshalb im vergangenen Jahr für einen Pivot ihres Projektes, also eine partielle Neuausrichtung. Seither nimmt Restart ländliche Regionen in den Fokus. „Wir wollten eine größere Wirkung in einem kleineren Gebiet erzielen“, erläutert Oleksandr. „Die durchschnittliche ukrainische Kommune hat 30.000 Einwohner. Uns wurde bewusst, dass wir in solch einer Kommune mehr bewegen können – und dass uns ein gelungenes Beispiel als Blaupause für den Wiederaufbau weiter Landesteile dienen kann.“
Die Wahl von Restart fiel auf die Gemeinde Voznesensk, gelegen in der Oblast Mykolajiw im Süden der Ukraine. Die Stadt mit ihren gut 34.000 Einwohnern erlangte im Februar 2022 Berühmtheit, weil ihre Bewohner die ukrainische Armee tatkräftig dabei unterstützten, die Russen über den Südlichen Bug zurückzudrängen. Bis heute liegt die Region im Einflussbereich der Front, regelmäßig schlagen hier Raketen ein, zerstören Schulen, Kindergärten oder Kraftwerke.
Dazu kommt die Tatsache, dass sich in Voznesensk, wie in vielen Kommunen der Ukraine, die gesellschaftliche Struktur verändert hat. Die Alteingesessenen, die geblieben sind, treffen auf Zurückgekehrte und auf Menschen, die aus besetzten oder verwüsteten Regionen geflohen sind. Hinzu kommen Kinder, Alte sowie Veteraninnen und Veteranen, oft an Leib und Seele versehrt. Sie alle müssen vor Ort eine Lebensgrundlage finden und ihr Zusammenleben neu verhandeln. Gelingt dies nicht, entscheiden sich immer mehr Menschen, wegzuziehen – das Land entvölkert sich. Deshalb hat man bei Restart die sozialen Implikationen des eigenen Handelns stets im Blick.
„Wir haben gesehen, dass es wichtig ist, genau jetzt die Infrastruktur in Regionen wie dieser zu stützen. Dann entscheiden sich die Menschen zu bleiben – was wiederum wichtig ist für unsere Gesellschaft.“
Im Januar 2024 besuchte das ReStart-Team die Gemeinde Voznesensk, wo es den Einwohnern die Analyse ihres Berichts vorstellte. Für das Team ist es entscheidend, die lokale Bevölkerung in die Entwicklung eines Modells für den kommunale Wiederaufbau einzubeziehen - denn die Einwohner:innen sind die besten Expert:innen in ihrer Stadt.
Für Voznesensk erarbeiteten die Planer von Restart einen ganzheitlichen Ansatz. Drei Handlungsfelder illustrieren dies exemplarisch: Zum Ersten soll hier ein Zentrum regionalen Unternehmertums entstehen, das zum Beispiel kleine Technologiefirmen zum Bau von Drohnen oder Baustoffhändler beheimatet. Zum Zweiten will man Schutzräume in allen Schulen und Kindergärten bauen, damit Kinder weiter dorthin gehen können. Zum Dritten will Restart die Energieproduktion dezentralisieren, um den Ausfall durch Luftschläge zu minimieren. „Wir setzen dabei auf kleine Gasturbinenkraftwerke mit einer Leistung von einem Megawatt“, erklärt Oleksandr Shevchenko. Es gehe nun darum, sich mit den Akteuren vor Ort abzustimmen und aus Kiew Unterstützung zu erhalten. „Wir sind optimistisch, aber die Pläne müssen nun auch verwirklicht werden.“
Keine Frage, der Weg zum Erfolg scheint weit. Der Krieg hängt weiter in der Schwebe, Putins Russland scheint alles andere als Deeskalation im Sinn zu haben. Doch bei Restart Agency begreift man die eigenen Pläne und Projekte als ein Zeichen der Hoffnung – als Perspektive für eine friedliche Zukunft. „Unser Plan ist es, die Gemeinschaften unter den Bedingungen der ständigen Bedrohung stabiler und widerstandsfähiger zu machen. Wir machen weiter. Denn wenn wir nichts tun, wird die Lage sich noch verschlimmern.“ Sei der Krieg erst einmal beendet, so böten sich dem Land große Chancen. „Wir sind eine großartige und sehr anpassungsfähige Nation, die derzeit nach temporären Lösungen sucht. Für uns ist es wichtig, in die Verteidigung zu investieren. Wir müssen jedoch Wege finden, um parallel dazu starke Kommunen aufzubauen.“
Aufgeben, so viel ist klar, ist für Oleksandr Shevchenko und das Team von Restart keine Option.
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