Sie versorgen Soldaten an der Front, retten Kunst vor der Zerstörung oder kümmern sich um Kriegsvertriebene im eigenen Land: Zivilgesellschaftliche Organisationen in der Ukraine übernehmen vielerorts staatliche Aufgaben, das Engagement hat im Laufe des Krieges sogar zugenommen. Unser Experte Markus Lux erklärt, warum zivilgesellschaftliche Vertreter:innen beteiligt sein müssen, wenn international über die Zukunft des Landes verhandelt wird.
Die beeindruckende Widerstandsfähigkeit der Ukraine, die zu Beginn des vollumfänglichen russischen Angriffskrieges erfolgreich zur Verteidigung des Landes beitrug und bis heute anhält, beruht größtenteils auf dem enormen Engagement der ukrainischen Zivilgesellschaft. Zivilgesellschaftliche Akteure – insbesondere lokale – haben seit den ersten Kriegstagen im Frühjahr 2022 vielfach staatliche Aufgaben übernommen und gehören neben dem Militär inzwischen zu den am meisten respektierten Gruppen im Land (Quelle: Kyiv International Institute of Sociology). Das Engagement hat seit Beginn des Krieges sogar noch beträchtlich zugenommen und seine Strukturen sind vielfältiger geworden.
Ein paar Beispiele: Bewegungen wie das „Volunteer Movement“ oder Organisationen wie „Artistic Hundred ‚Haydamaky‘“ sind unverzichtbar bei der Hilfe für Kriegsbetroffene und Geflüchtete sowie bei der Unterstützung von Soldaten und Zivilisten im Kampfgebiet. Insha Osvita, eine NGO für kulturelle Bildung, hat den Schutz kultureller Infrastruktur in ihrer Oblast (Verwaltungsbezirk) übernommen. Die Stiftung Rokada nutzt ihre langjährige Erfahrung in der Betreuung von Asylsuchenden in der Ukraine und kümmert sich nun um die Integration von Binnengeflüchteten (Internally Displaced Persons, IDP), in dem sie landesweit lokale IDP-Räte für eine bessere Interessensvertretung etabliert hat.
Längst ist also deutlich, dass die ukrainische Zivilgesellschaft beim Recovery- und Wiederaufbauprozess eine tragende Rolle spielt. Die Bewältigung psychischer Traumata in großen Teilen der Bevölkerung, die Integration von Veteranen in die (Nach-)Kriegsgesellschaft, die Überwindung gesellschaftlicher Spaltung in einem Land, dessen Regionen ganz unterschiedlich vom Kriegsgeschehen betroffen sind: all das sind enorme Herausforderungen, die der ukrainische Staat allein nicht schultern kann.
Aber auch bei Fragen wie der ökologischen Transformation ist die Beteiligung von nichtstaatlichen Akteur:innen geboten, gerade in den Prozessen im Zuge des Wiederaufbaus. Dies wird im Hinblick auf einen EU-Beitrittsprozess noch dringlicher. Vorausschauend haben sich bereits in den ersten Wochen nach Kriegsbeginn Organisationen wie Restart gegründet, die sich lokalen, transsektoralen Planungsprozessen für den Wiederaufbau widmen – in dem Bewusstsein, dass solche Prozesse über einen längeren Zeitraum etabliert werden müssen.
Angesichts der enormen, auch finanziellen Belastung des Landes ist klar, dass die ukrainische Zivilgesellschaft auch zukünftig auf internationale Unterstützung angewiesen sein wird. Doch aktuell ist die Förderung aus dem Bereich der Philanthropie rückläufig, und auch Hilfen anderer Staaten sind instabil – jüngstes, extremes Beispiel ist das abrupte Aussetzen der Gelder von USAID. Viele zivilgesellschaftliche Organisationen und Initiativen bedroht das in ihrer Existenz.
Uns verbinden seit mehr als 30 Jahren enge Beziehungen zu Partner:innen in der Ukraine. Seit dem russischen Angriffskrieg haben wir unser Engagement verstärkt und fokussieren auf die Förderung zivilgesellschaftlicher Akteure in der Ukraine, die entscheidend zum Zusammenhalt im Land beitragen.
Angesichts dessen hat es sich die Initiative Foundations for Ukraine (F4U) zur Aufgabe gemacht, die philanthropischen Aktivitäten besser zu koordinieren und das Innovationspotential der Ukraine zu zeigen. F4U will damit auch neue Förderer:innen gewinnen, die bislang über Nothilfe hinaus die Ukraine nicht im Blick hatten. Bei allen Überlegungen sollten die Bedarfe der ukrainischen Partner im Fokus stehen. Eine der zentralen Forderungen, wie sie vom Netzwerk Alliance of Ukrainian Civil Society Organizations adressiert werden, ist die Lokalisierung der internationalen Mittel, das bedeutet: Die Zuwendungen sollen direkt an Organisationen in die Ukraine gehen. An genau diesem Prinzip richten wir in der Robert Bosch Stiftung unsere Ukraine-Förderung aus.
Erfahrungsgemäß besteht die Gefahr, dass die zivilgesellschaftlichen Akteure nach Erreichen eines Friedenszustandes durch staatliche und internationale Einflüsse zurückgedrängt werden. Die ukrainische Zivilgesellschaft muss daher von staatlichen Stakeholdern anerkannt und in ihrer Expertise wertgeschätzt werden, und sie sollte an den internationalen Prozessen des Wiederaufbaus gestaltend beteiligt werden. Dazu gehört auch ihre sichtbare und aktive Vertretung an großen internationalen Konferenzen wie der Ukraine Recovery Conference und der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC).
Die Robert Bosch Stiftung arbeitet im Rahmen ihres Fördergebiets Globale Fragen mit der Münchner Sicherheitskonferenz zusammen. Sie will mit dieser Partnerschaft einen Beitrag leisten, die Formate der MSC an ein erweitertes Sicherheitsverständnis anzupassen, das auch Themen wie Frieden, Klimawandel und Migration einbezieht. Ein Ziel ist auch, dass bei der MSC neue lokale Perspektiven sowie Vertreter:innen aus der Zivilgesellschaft stärker berücksichtigt werden.
Dementsprechend veranstalten wir von der Robert Bosch Stiftung unser diesjähriges Panel auf der MSC mit Vertreter:innen ukrainischer zivilgesellschaftlicher Organisationen: Oleksandra Matviichuk vom Center for Civil Liberties, das 2022 den Friedensnobelpreis erhielt, sowie Hanna Hopko vom International Center for Ukrainian Victory. Auf dem Panel beleuchten wir die Rolle der ukrainischen Zivilgesellschaft auch aus einer geopolitischen Perspektive, widmen uns der Frage, wie die (dauerhafte) Übernahme staatlicher Aufgaben durch gesellschaftliche Akteure gelingen kann, und ob die Ukraine ein Vorbild oder Impulsgeberin für andere Länder im EU-Beitrittsprozess sein kann. Weitere Expert:innen auf unserem Panel sind Orysia Lutsevych (Chatham House), der renommierte Historiker Timothy Snyder (Yale University) und Nico Lange (MSC).