Zu Beginn des russischen Angriffskrieges flohen Millionen Ukrainer:innen ins Nachbarland Polen. Wie hat das Land diese Ausnahmesituation gemeistert – und wo stehen die Integrationsbemühungen heute?
Lange bevor am 24. Februar 2022 die russische Invasion der Ukraine begann, lebten in Polen bereits über eine Million Ukrainer:innen. Viele von ihnen waren wegen der russischen Annexion der Krim und des bewaffneten Konfliktes im Donbass 2014 nach Polen geflohen oder eingewandert. Doch nichts konnte die polnische Zivilbevölkerung auf die Zahl der Geflüchteten vorbereiten, die in den Wochen und Monaten nach Beginn des russischen Angriffskrieges die ukrainisch-polnische Grenze überquerten. Zehn Millionen Grenzübertritte gab es zwischen März und Juni 2022. 980.000 ukrainische Flüchtlinge wurden in Polen bis Ende 2024 registriert.
Wie hat Polen diese Ausnahmesituation gemeistert? Wir zeichnen die Entwicklung nach – und stellen dabei das Modell des Community Sponsorship zur Integration Geflüchteter vor, das sich in Polen immer mehr etabliert hat.
Ziel des Community-Sponsorship-Modells ist es, Gruppen zu unterstützen, die sich um geflüchtete Menschen kümmern. So will es zu einer strukturierten Aufnahme und langfristigen Integration beitragen. Community Sponsorship fördert eine enge Zusammenarbeit zwischen Akteur:innen, die an der Integration Geflüchteter beteiligt sind: also zwischen zivilgesellschaftlichen Gruppen, Gemeinden, lokalen und nationalen Behörden und dem privaten Sektor. Das Modell des Community Sponsorship entstand in Kanada. Inzwischen ist es weltweit in über 20 Ländern verbreitet, vorangetrieben vor allem durch die Global Refugee Sponsorship Initiative (GRSI). Getragen wird die GRSI unter anderem von Pathways International und der Robert Bosch Stiftung.
Viele polnische Bürger:innen entschieden sich, solidarisch zu handeln. Ergebnisse einer im Sommer 2022 durchgeführten Studie des Polish Economic Institute machten das zivile Engagement in Zahlen greifbar: In den ersten Monaten des russischen Angriffskrieges haben 77 Prozent der polnischen Bürger:innen Hilfe für die Geflüchteten geleistet. Zehn Prozent haben vorübergehend sogar Wohnraum zur Verfügung gestellt. Die Solidaritätswelle der polnischen Bevölkerung fiel in eine Zeit, in der die staatlichen Strukturen in Polen mit massiver Überforderung zu kämpfen hatten. Das Engagement der Pol:innen füllte eine Lücke im System. Im Chaos nach dem Kriegsausbruch folgten die Menschen, die die Geflüchteten unterstützten, jedoch keiner zentralen Strategie. Vielmehr improvisierten sie: Sie sammelten Spielzeug- und Kleiderspenden, organisierten Suppenküchen oder richteten Mutter-Kind-Räume in Bahnhofshallen ein, in denen Geflüchtete sich ausruhen konnten.
Schnell verfestigten sich auch die Kontakte zwischen Hilfsorganisationen vor Ort, freiwilligen Helfer:innen und internationalen Akteuren. Wenn so viele beteiligt sind, hilft es, Strukturen zu entwickeln. Bestenfalls solche, die nicht nur die Herausforderungen der Gegenwart im Blick haben, sondern auch in Zukunft tragfähig sind.
„Pol:innen sind sehr gut darin, Krisensituationen zu bewältigen“, sagt Dorota Wanat. „Aber das Ziel unseres Modells ist es, langfristige Lösungen für die Unterstützung von Geflüchteten zu schaffen.“ Dorota Wanat, Programmleiterin bei der Organisation Pathways International in Polen, meint damit das Community-Sponsorship-Modell. Es basiert darauf, dass sich lokale Gemeinschaften an der Integration Geflüchteter beteiligen und Verantwortung übernehmen. Geflüchtete sollen nicht nur bei ihrer Ankunft unterstützt werden, sie werden auch bei den ersten Schritten im neuen Land begleitet: eine Arbeit suchen, die Sprache lernen, sich ein soziales Netzwerk vor Ort aufbauen. Menschen, die Geflüchteten helfen, und Hilfsbedürftige sollen dabei gleichermaßen ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln. Und da mehrere Personen Verantwortung übernehmen, fühlen sich die Freiwilligen seltener überfordert, so die Idee.
Das Modell fördert zudem eine enge Zusammenarbeit zwischen zivilgesellschaftlichen Gruppen, Organisationen, lokalen Behörden und der Regierung. Projektkoordinatorin Dorota Wanat fasst es so zusammen: „Bei der Integration von Geflüchteten sollten alle Teile unserer Gesellschaft einbezogen werden. Community Sponsorship bedeutet nicht einfach, zum Bahnhof zu gehen und einen Fremden zu sich nach Hause einzuladen. Es geht vielmehr darum, eine Gemeinschaft und ein Unterstützungssystem um diese Person herum aufzubauen – und dabei spielen wir alle eine Rolle.“ Hunderte von Menschen aus lokalen Behörden, Institutionen und Gemeinden in Polen hätten an den von Pathways International organisierten Treffen zum Community Sponsorship teilgenommen, erzählt Dorota Wanat. Und es sind diese Institutionen und Menschen, die nun die Integrationsbemühungen in ihren Städten und Gemeinden leiten.
Ein Beispiel für gelebtes Community Sponsorship ist das „Dom Sąsiedzki“ – übersetzt: Nachbarschaftshaus – im zentralpolnischen Kalisch. Dort haben sich seit Dezember 2024 drei Community-Sponsorship-Gruppen zusammengefunden. Kalina Michocka leitet das Pilotprojekt, bei dem zwei Ukrainerinnen sowie eine Familie aus Lateinamerika unterstützt werden. „Spanischsprachige Migrant:innen kommen über eine Arbeitsagentur nach Polen. Sie arbeiten viel und haben kaum Kontakt zur polnischen Bevölkerung“, sagt Michocka. „Jetzt haben sie uns Weihnachtslieder aus Venezuela gezeigt, und sie tauschen mit den Ukrainerinnen und uns Rezepte in unserer WhatsApp-Gruppe aus. Es ist schön, solche Kleinigkeiten zu beobachten.“ Die Idee des Community Sponsorship, betont Michocka, sei etwas sehr Organisches: Wer kann wem auf welche Weise helfen? „2022 haben wir alle nach dem Community-Sponsorship-Modell gehandelt, auch wenn es damals niemand so genannt hat.“
Nadia Virych ist eine der Ukrainer:innen im Projekt „Dom Sąsiedzki“. Sie ist 66, pensionierte Lehrerin, und floh im Frühjahr 2022 aus ihrer ukrainischen Heimatstadt Mykolajiw nach Kalisch. Ihre Gesundheit ist angeschlagen, die letzten Jahre lebte sie von einer bescheidenen ukrainischen Rente. „Für mich als ältere Frau ist das Projekt im ,Dom Sąsiedzki‘ ein Riesengeschenk. Ich habe wundervolle, interessante Menschen getroffen, und auch Kalina ist eine große treibende Kraft.“ Virych will die nächsten Monate dazu nutzen, ihre Polnischkenntnisse zu verbessern.
Doch das soziale und politische Klima in Polen, in dem Pathways International das Community Sponsorship weiter verankern möchte, ist kein einfaches. Auch wenn sich die lokalen Strukturen nach und nach aufbauen, ist national und international vieles im Umbruch. Wie überall in Europa wächst auch in Polen die Feindseligkeit gegenüber Geflüchteten und Migrant:innen, und die Regierung verfolgt noch immer keine kohärente Einwanderungspolitik. Hinzu kommt die instabile Sicherheitslage in der Ukraine: Seit dem Wintereinbruch im letzten Jahr sind die Zahlen der ukrainischen Geflüchteten wegen der vermehrten russischen Angriffe und der ständigen Stromausfälle erneut gestiegen.
Treibende Kraft des Community Sponsorship in Polen ist Pathways International. Die Organisation arbeitet mit fünf etablierten Partnern zusammen: das Polish Migration Forum, die Association of Creative Initiatives „ę“, Homo Faber, Nomada sowie KIK (Klub der Katholischen Intelligenz). Sie bieten Schulungen und Know-how an, unterstützen Willkommensinitiativen vor Ort und vernetzten die verschiedenen Parteien. Darüber hinaus fördert Pathways International das Community Sponsorship auf nationaler Ebene: als Integrationsmodell und als Grundlage für sichere und legale Migrationswege.
Was hat der Ansatz des Community Sponsorship auf politischer Ebene bewirkt? „Wir sehen erste positive Anzeichen für einen strategischeren Ansatz der polnischen Regierung, der vom Community Sponsorship inspiriert ist“, sagt Dorota Wanat. Aber konkrete staatliche Unterstützung – durch einen verlässlichen rechtlichen Rahmen zur Aufnahme von Geflüchteten oder durch eine staatliche Förderung des zivilgesellschaftlichen Engagements – bleibt unklar.
Dennoch: Innerhalb von nur anderthalb Jahren hat sich das Community Sponsorship in Polen als erfolgreiches Konzept etabliert. So zeigen Beamt:innen und Entscheidungsträger:innen, Führungskräfte, Expert:innen der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft sowie Medienvertreter:innen ein wachsendes Interesse an dem Modell. Es gibt den starken Impuls, die Aktivitäten auszuweiten und ein landesweites Programm zu entwickeln. Pathways International hofft auch, dass die Strukturen des Community Sponsorship dazu beitragen, sichere und legale Migrationswege nach Polen zu schaffen. Und dass es auch langfristig lokale Gemeinden mit Geflüchteten zusammenbringt, die Schutz, Bildungsmöglichkeiten oder Arbeit suchen.